Hamburg. Warum manche Profis von Stille im Stadion profitieren – alle aber Sport ohne Zuschauer nicht dauerhaft wollen.

Als sie ausglichen zum 5:5 im zweiten Satz, da wurde Kevin Krawietz (28/Coburg) und Andreas Mies (30/Köln) noch einmal bewusst, worin die Quintessenz ihres Tuns besteht. „Da hatten wir die Fans sofort im Rücken, auch wenn wir ihnen heute ansonsten nicht viel Gelegenheit gegeben haben, laut zu sein“, sagte Mies, nachdem die French-Open-Doppelsieger von 2019 am Donnerstag im Viertelfinale des Tennisturniers am Rothenbaum mit 3:6, 5:7 an Wesley Koolhof (Niederlande)/Nikola Mektic (Kroatien) gescheitert waren.

Die Frage, wie sich Tennis ohne Zuschauer verändert und welchen Einfluss die fehlende Atmosphäre auf der emotionalen Ebene hat, ist eine spannende. Am Rothenbaum sind in dieser Woche 2300 Besucher pro Tag zugelassen; ein Wert, der bislang an noch keinem Tag erreicht wurde. In den ersten Wochen des Neustarts nach der Corona-Unterbrechung waren bei den Turnieren in den USA keine Fans erlaubt. In den leeren Arenen in New York konzentrierte sich das Geschehen deshalb komplett auf den Sport, auf die Duelle Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau. „Das war Tennis pur, und ich fand es sehr spannend zu beobachten, wie die Aktiven damit umgegangen sind“, sagt Michael Kohlmann.

Vorteile für die Spieler

Der Daviscup-Teamchef ist überzeugt davon, dass der deutsche Spitzenspieler Alexander Zverev (23/Hamburg), der bei den US Open sein erstes Grand-Slam-Finale erreichte (und gegen Österreichs Topmann Dominic Thiem verlor), von der Konzentration auf den Sport profitiert hat. „Er war deutlich ruhiger als sonst, hat sich nicht so viel ablenken lassen. Für ihn scheint es ein großes Plus zu sein, wenn der Sport im Mittelpunkt steht“, sagt der 46-Jährige. Andere Spieler, wie zum Beispiel der Franzose Gael Monfils (34), seien ohne die Unterstützung von den Rängen deutlich schwächer. „Ihnen fehlt dann Energie, die sie aus der Anfeuerung des Publikums ziehen“, sagt Kohlmann.

Ob jüngere Spieler, denen aus den Anfängen ihrer Karriere die Geisteratmosphäre noch geläufiger ist, mit den Corona-Umständen besser umzugehen wissen als die Etablierten, möchte Kohlmann nicht verallgemeinern. „Ich glaube aber, dass Novak Djokovic, wenn er nicht disqualifiziert worden wäre, bei den US Open auch ohne Zuschauer mit Abstand der Beste gewesen wäre“, sagt er.

Manchen Spielern fehlt die Energie aus dem Publikum

Auch Andy Fahlke hat sich mit der Frage, wie sich Tennis ohne Zuschauer verändert, beschäftigt. Der Hamburger Ex-Profi, der von 1997 bis 2002 auf der ATP-Tour aktiv war und mittlerweile im Schwarzwald lebt, arbeitet als Psycho­loge und Tenniscoach. Der 41-Jährige glaubt, dass sich erfahrenere Spieler grundsätzlich besser auf unterschied­liche Situationen einstellen könnten, der Umgang mit fehlender Unterstützung von außen allerdings eine Charakterfrage sei. „Es gibt Spieler wie Alexander Zverev, die sich vom Publikum mehr beeinflussen lassen, und denen es deshalb guttun kann, wenn sie sich ohne Ablenkung vollends auf ihr Spiel konzentrieren können“, sagt er.

Andere wiederum zögen aus der Interaktion mit dem Publikum Kraft und Motivation. „Es ist immer die Frage, wie es gelingt, mit äußeren Einflüssen umzugehen“, sagt Fahlke. Je weniger Drucksituationen entstünden, desto wichtiger werde die Fokussierung auf die elementaren Dinge. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ich es genossen habe, wenn viele Zuschauer da waren. Dann habe ich versucht, mit ein paar lockeren Aktionen oder Sprüchen das Publikum auf meine Seite zu ziehen“, sagt er, „aber genauso kann es anderen mehr helfen, sich auf sich selbst zu besinnen.“

Athleten bewerten die Lage unterschiedlich

Im Lager der Weltklassespieler, die in dieser Woche am Rothenbaum aufschlagen, gibt es zwar niemanden, der dauerhaft auf Zuschauer verzichten möchte. Dennoch gehen die Bewertungen der aktuellen Lage in beide Richtungen. „Bei den US Open habe ich gespürt, dass ich besser spiele, wenn die Emotionen von außen dazukommen“, sagt der Russe Daniil Medwedew (24), der 2019 in New York im Finale stand und in diesem Jahr im Halbfinale an Thiem scheiterte. Der Japaner Kei Nishikori (30) dagegen, der in Hamburg wie Medwedew in Runde eins ausschied, fand Gefallen an der Stille. „Natürlich ist es mit Zuschauern schöner, aber ich mag es, mich komplett auf mein Spiel fokussieren zu können.“

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Für den deutschen Daviscupspieler Jan-Lennard Struff (30/Warstein) war die Rückkehr vor Publikum so gewöhnungsbedürftig wie nötig. „Wenn man mehrere Monate ohne Fans gespielt hat, ist der Druck höher, besonders in der Heimat. Aber wir spielen für die Fans, deshalb bin ich froh, dass sie wieder zugelassen sind.“ In Paris, wo am Sonntag die French Open beginnen, werden es wohl 1000 pro Tag sein. Zunächst hatten die Organisatoren auf 20.000 gehofft, die aktuellen Corona-Zahlen lassen jedoch nur ein Zwanzigstel zu. Für die
Titelverteidiger Krawietz/Mies ist auch das viel besser als nichts: „Schon 200 machen einen riesigen Unterschied.“