Hans-Jochen Vogel war Mr. Olympia 1972 – im Abendblatt-Interview spricht er auch über Hamburgs Olympiabewerbung.

Hans-Jochen Vogel und die Olympischen Sommerspiele 1972 in München sind eng miteinander verbunden. Er holte das Fest der Jugend 1965 nach Deutschland, organisierte die Planungen und erlebte dann Tage zwischen Freude und Entsetzen. Mit dem heute 89-Jährigen sprach Matthias Iken.

Hamburger Abendblatt : Herr Vogel, wie haben Sie die Spiele 1965 nach München geholt?

Hans -Jochen Vogel: Das ist dem damaligen NOK-Präsidenten Willi Daume zu verdanken. Ich kann mich gut an das betreffende Gespräch erinnern. Zuerst hat er gefragt, ob ich sicher sitze. Ich dachte schon, es wäre irgendetwas mit dem Stuhl nicht in Ordnung. Aber dann machte er den Vorschlag, München solle sich um die Olympischen Sommerspiele 1972 bewerben. Ich war sprachlos und habe um zwei, drei Tage Bedenkzeit gebeten. Nach Gesprächen mit meinen engsten Mitarbeitern und dem bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel war klar: Wir wagen es. Da blieben uns nur 60 Tage bis Bewerbungsschluss.

Wie konnte sich München 1966 als damals relativ unbekannter Ort im IOC gegen Madrid, Montreal, Detroit, das sich schon zum vierten Mal bewarb, durchsetzen?

Vogel : Es gibt zwei Gründe. Erstens hat unsere Bewerbung mit der Idee der kurzen Wege überzeugt. Und zweitens hatte der IOC-Chef Brundage das Ziel, die Verlierer des Zweiten Weltkriegs wieder voll in die olympische Familie zu integrieren. Zuvor waren die Spiele schon nach Rom und Tokio vergeben worden.

Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) sitzt am 16.05.2014 zu Beginn eines Festakts zur Verabschiedung des ehemaligen Oberbürgermeisters Ude im Deutschen Theater in München (Bayern). Ude war von 1993 bis 2014 Oberbürgermeister von München. Foto: Andreas Gebert/dpa [ Rechtehinweis: Verwendung weltweit, usage worldwide ]
Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) sitzt am 16.05.2014 zu Beginn eines Festakts zur Verabschiedung des ehemaligen Oberbürgermeisters Ude im Deutschen Theater in München (Bayern). Ude war von 1993 bis 2014 Oberbürgermeister von München. Foto: Andreas Gebert/dpa [ Rechtehinweis: Verwendung weltweit, usage worldwide ] © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Andreas Gebert

Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD)

Bei der entscheidenden IOC-Sitzung haben Sie dann frei auf Englisch für München geworben.

Vogel : Ich habe mir da einige Mühe gegeben, um eine kurze fehlerfreie Rede zu halten. Von der Wirkung her war es wohl die wichtigste Rede in meiner Zeit als Münchener Oberbürgermeister.

Hatte das NOK noch andere deutsche Städte für eine Bewerbung im Blick?

Vogel : Nein. Es gab wohl ganz kurz eine Überlegung, in beiden Teilen Berlins Spiele zu veranstalten. Aber das war völlig unrealistisch. In Deutschland haben damals auch nur die wenigsten geglaubt, dass eine deutsche Bewerbung aussichtsreich sein könnte.

Waren damals schon Gefälligkeiten nötig, um an Spiele zu kommen? Heute können Sie es sagen – welche Tricks hat München damals eingesetzt?

Vogel : Das war damals nicht notwendig. Wir haben Gäste aus dem IOC -Bereich stets höflich behandelt, das war alles. Es gab keinerlei Einflussnahmen.

Hatten Sie in München eine Opposition gegen die Spiele?

Vogel : Nein, auch das hat unsere Bewerbung befördert. Es gab keine Gegner – nicht einmal unter den 68er-Studenten, die damals in München sehr aktiv waren. Ich kann mich nur an einen Journalisten erinnern, der Bedenken äußerte, und den habe ich dann in einer Diskussion im Bayerischen Rundfunk überzeugt.

Warum gab es damals keine Gegner?

Vogel : Die Idee hat allen in München eingeleuchtet! Die Bekanntheit der Stadt wurde gesteigert, der Tourismus gefördert, der Ausbau von U- und S-Bahn beschleunigt. München, die Stadt der NS-Bewegung, konnte sich in einem anderen Licht präsentieren – wie ganz Deutschland. Zudem waren die Olympischen Spiele damals nicht so kommerzialisiert. Daran und am Einfluss des IOC stoßen sich ja heute viele Menschen nicht zu Unrecht.

Wie war damals die Zusammenarbeit mit dem IOC-Chef Brundage, einer heute umstrittenen Figur. Brundage hatte 1936 den US-Boykott der Spiele in Berlin verhindert, einige halten ihn für einen Rassisten.

Vogel : Das ist uns nicht deutlich geworden. Ich habe derlei erst nach den Spielen über ihn gehört, kann das aber nicht bestätigen. Die Vorbereitung für die Spiele lief insgesamt in sehr kooperativer Weise. Klug war sicher, dass wir eine Olympiabaugesellschaft gegründet haben, der Bund, Land und Stadt als Gesellschafter angehörten. Damals kam mir der Gedanke, den damaligen Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß als Vorsitzenden des Aufsichtsrats zu gewinnen. Das zahlte sich aus, denn beispielsweise ein Innenminister hätte bei Kostenentscheidungen immer erst den Finanzminister fragen müssen. Der bayerische Finanzminister wurde erster Stellvertreter, ich habe mich mit dem Posten des zweiten Stellvertreters begnügt.

Spiele im Grünen, Spiele der Freiheit, Spiele mit menschlichem Maß, das sind Schlagworte zu München 1972. Was war Ihnen besonders wichtig?

Vogel : Erstens der Unterschied zu den Spielen 1936 in Berlin. Und zweitens wollten wir zeigen, dass auch in Zeiten des Ost-West-Konflikts ein friedlicher Wettbewerb möglich ist.

Was waren die ersten Dinge, die Olympia verändert hat?

Vogel : Das waren vor allem die Planungen für das Olympiagelände. Weil wir nur 60 Tage für die Vorbereitung der Bewerbung hatten, mussten wir uns auf bereits bestehende Pläne stützen – das war eben ein schon geplantes Fußballstadion auf dem Oberwiesenfeld. Dann wurde ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem das Olympiastadion von Günter Behnisch und Frei Otto als Sieger hervorging – ein Meisterwerk.

Wie wichtig war die Architektur – das leichte Zeltdach gilt als Gegenentwurf zum massiven Berliner Olympiastadion.

Vogel : Es war ein wesentliches Element der Unterscheidung. Ich bedauere sehr, dass heute keine Fußballspiele mehr im Olympiastadion ausgetragen werden. Für die Europa- und Weltmeisterschaft war es gut genug. Aber dann haben Leute wie Franz Beckenbauer gesagt, das sei nicht der Dampfkessel, den man heute für Fußballspiele brauche. Über den bösen Satz von Beckenbauer, es müsse sich doch ein Terrorist finden, der dieses Stadion in die Luft sprengt, ärgere ich mich bis heute.

Haben Sie noch Erinnerungen an die Eröffnungsfeier? Zu diesem Zeitpunkt waren Sie seit einigen Wochen nicht mehr Bürgermeister.

Vogel : Darüber habe ich mich nicht gegrämt. Zwischen den Spielen und mir gab es eine enge Verbindung, das war allen bewusst. Und der Bürgermeister spielt bei der Eröffnung auch keine große Rolle, der darf nur dabeisitzen.

Sie konnten also in Ruhe genießen?

Vogel : Das Wetter war herrlich, die Stimmung fröhlich. Die Nationen zogen nicht mit ihren Hymnen, sondern Volksliedern ein. Und der Blick nach draußen aus dem Stadion fiel auf die benachbarten Hügel, auf denen Menschen zu Zehntausenden standen. Es war wunderbar.

Die Eröffnungsfeier kam international sehr gut an, US-Zeitungen schrieben vom „Geist der Münchener Spiele, der Geist eines neuerstandenen Deutschlands.“

Vogel : Die Wirkung war enorm. Es waren heitere Spiele, die ein neues, ein anderes Deutschland zeigten. Eine solche Bedeutung werden zukünftige Spiele kaum haben können.

Dann kam der 5. September. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom Attentat hörte?

Vogel : Ich habe es in der Frühe in den Nachrichten gehört und bin dann gleich hingefahren. Am nächsten Tag flog ich mit den Särgen nach Tel Aviv und nahm an der Trauerfeier teil. Es waren dramatische Momente, und es war tragisch. Jüdische Sportler, die wir als Gäste eingeladen hatten, hatten in München ihr Leben verloren – das war das Schlimmste, was passieren konnte. Es hat gezeigt, wie dicht im Leben Freude und Trauer, Fröhlichkeit und Entsetzen beieinanderliegen.

Hätten die Spiele danach abgebrochen werden sollen?

Vogel : Zunächst hatte ich den Eindruck, man müsste die Spiele abbrechen; ich habe mich dann aber von Brundage überzeugen lassen. Es durfte nicht sein, dass man die Entscheidung den Terroristen überlässt.

Bei der Schlussfeier kam dann noch die Information, dass ein unbekanntes Flugobjekt im Anflug auf das Stadion war.

Vogel : Auch das habe ich mitbekommen. Nach der Erfahrung vom 5. September mussten wir mit dem Schlimmsten rechnen. Abfangflugzeuge der Bundeswehr stiegen auf, und der Stadionsprecher Blacky Fuchsberger, der in Verbindung mit der Bundeswehr stand, musste entscheiden, ob er auf Gott vertraut oder eine Durchsage macht. Er hat sich entschieden, nichts zu sagen und damit eine Panik verhindert, bei der vermutlich nicht wenige Menschen zu Tode gekommen wären. Nach wenigen Minuten wurde dann klar, dass ein finnisches Verkehrsflugzeug vom Wege abgekommen war.

Werfen Sie sich rückblickend vor, dass München nicht auf ein härteres Sicherheitskonzept gesetzt hat? Der Kriminalpsychologe Georg Sieber hatte im Vorfeld der Olympischen Spiele unter anderem das Szenario eines PLO-Attentats entwickelt, dem das spätere Attentat ziemlich genau entsprach. Machen Sie sich Vorwürfe?

Vogel : Diese Frage habe ich mir und haben sich auch die unmittelbar Verantwortlichen immer wieder gestellt. Aber das Sicherheitskonzept sollte sich eben deutlich von 1936 unterscheiden: Wir wollten weder überall bewaffnete Polizisten postieren noch Mauern um das Dorf errichten. Und es gab weltweit keine Bedenken gegen das Konzept. Bei der Befreiungsaktion gab es Fehler, das muss man einräumen.

Abgesehen davon – gab es etwas, was damals falsch gemacht wurde?

Vogel : Nein, eigentlich nicht.

Hat München das Budget eingehalten?

Vogel : Für die Baumaßnahmen war wie gesagt nicht die Stadt zuständig, sondern die Olympiabaugesellschaft. Von den Kosten hat der Bund die Hälfte übernommen, der Freistaat und München je ein Viertel. Die Gesamtsumme von 1,9 Mrd. Mark lag am Ende nur knapp über den Planungen. Das war der Idee eines klugen Beamten im Bundesfinanzministerium zu verdanken: Es wurden nämlich 100 Millionen Zehn-Mark-Münzen geprägt, die einen Ertrag von 700 Millionen Mark einbrachten. Und nicht zu vergessen: Es ist alles rechtzeitig fertig geworden, das Stadion übrigens schon im Herbst 1971.

Hamburg ist wie München nicht die Hauptstadt, sondern eine sogenannte „Second City“. Sind solche Städte geeigneter als Berlin?

Vogel : Als ehemaliger Regierender Bürgermeister in Berlin war ich zunächst für die Hauptstadt. Aber nach der Entscheidung sympathisiere ich mit Hamburg. Die Spiele an der Elbe können etwas Wichtiges leisten, sie können die Spiele zurückführen zu dem, was sie sein sollen: Kein gewaltiges ökonomisches Ereignis, sondern ein weltweites Fest des Friedens und der Fröhlichkeit. Ein Fest, das auch die Kultur besonders betont. Dafür ist Hamburg sehr geeignet. Sie greifen auch das Stichwort der kurzen Wege wieder auf.

Welchen Tipp würden Sie den Hamburgern mit auf den Weg geben?

Vogel : Unterstützt die Bewerbung möglichst geschlossen.

Wie haben die Spiele München verändert?

Vogel : Die Spiele haben der Welt ein neues Bild von München gezeigt, wir haben den Olympiapark bekommen, und wir konnten die Strukturen der Stadt verbessern. Und, auch das ist wichtig: Die Spiele haben das Selbstbewusstsein der Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger gestärkt.