Nach dem 24:35 beim Titelverteidiger kann der Champions-League-Sieger die Meisterschaft abschreiben. Zuschauer muss reanimiert werden

Kiel. Als Martin Schwalb zwei Minuten vor dem Ende seine letzte Auszeit nahm, war der Trainer der HSV-Handballer nur noch um Schadensbegrenzung („Bitte keine zehn Tore Differenz“) bemüht. Aber selbst die klappte nicht mehr. Die Hamburger kassierten im Bundesligaspitzenspiel beim THW Kiel mit 24:35 (12:19) ihre bisher höchste Saisonniederlage und die zweithöchste Pleite im 28. Duell beider Clubs. Nur vor neun Jahren hatten die Kieler schon mal deutlicher gegen den HSV gewonnen, 34:22 am 26. Oktober 2004. „Wir hatten einen gebrauchten Tag, Kiel einen überragenden. Der THW war die deutlich bessere Mannschaft. Das müssen wir anerkennen“, lautete Schwalbs Fazit.

Der trübe Jahresabschluss hatte dem Trainer jedoch nicht komplett die Stimmung verhagelt: „Alles in allem war es für uns mit dem Champions-League-Sieg im Juni ein gutes Jahr. Spiele wie hier in Kiel passieren jeder Mannschaft mal.“ Personelle Lehren aus dem Spiel will er nicht ziehen: „Alle, die heute versagt haben, haben wiederholt bewiesen, dass wir auf sie zählen können, auch in wichtigen Begegnungen.“

Individuelle Schuldzuweisungen waren ohnehin nicht angebracht, die gesamte Mannschaft fand nie zu ihrem Rhythmus. „Wir hatten vom Anfang bis zum Ende kein Zugriff auf das Spiel“, erkannte Torhüter Johannes Bitter. Bis zum 7:9 (16. Minute) hatte der HSV mithalten können, „aber schon in dieser Phase hatten wir bereits vieles falsch gemacht“, meinte Schwalb.

Danach häuften sich Fehler und Missverständnisse in Angriff und Abwehr, Kiel hatte „überraschend leichtes Spiel“, wie Welthandballer Filip Jicha fand. Und mit Johan Sjöstrand einen überragenden Schlussmann. Er parierte fast jeden zweiten Wurf der Hamburger. „Für einen durchschnittlichen Torhüter war das eine ganz ordentliche Leistung“, konnte sich THW-Trainer Alfred Gislason einen Schuss Ironie nicht verkneifen. Sjöstrand war in Kiel in den vergangenen Monaten wiederholt stark kritisiert worden.

Die äußerst bewegliche 6:0-Abwehr vor ihm (alle Mann am Kreis) hatte dem Schweden seine Arbeit wiederum erheblich erleichtert. Dem HSV, allen voran Spielmacher Domagoj Duvnjak, fiel gegen diese kompakte Deckungsformation wenig Kreatives ein, auch weil es den Hamburgern nicht gelang, Tempo in ihre Aktionen zu bringen. Besonders Kapitän Pascal Hens, null Tore bei fünf Versuchen, litt darunter.

„Wir haben viel zu statisch agiert, die Ballgeschwindigkeit fehlte“, schimpfte Schwalb. Der Wechsel des Regisseurs auf Joan Cañellas zahlte sich zwar in Treffern aus, der Spanier war mit sechs Toren bester Schütze des HSV, nur das Zusammenspiel wurde nicht nachhaltig besser.

„‚Kanne‘ ist mit der Mannschaft noch nicht so eingespielt wie ‚Dule‘. Das braucht eben alles seine Zeit“, sagte Schwalb. „Und die geben wir uns. Wir sind in der Champions League Gruppenerster, und in der Bundesliga ist wahrscheinlich bis auf die Meisterschaft für uns noch alles möglich. Es gibt in diesem Moment keinen Grund, alles infrage zu stellen. Wir sind auf einem guten Weg, der nun mal nicht immer geradeaus verläuft.“

Der Titel scheint nach der besten Saisonleistung an den THW Kiel vergeben. Jicha: „Wir haben über 60 Minuten Druck gemacht, den HSV nie zum Atmen kommen lassen. Das war entscheidend.“ Doch für Trainer Gislason kommt jetzt die schwerste Zeit der Saison, die sechswöchige Spielpause durch die EM im Januar in Dänemark: „Da beginnt für mich wieder das große Zittern, ob alle Spieler gesund zurückkehren.“

Die Stimmung auf den Rängen und bei den Spielern hatte ein Zwischenfall vor dem Spielbeginn früh getrübt. Ein älterer Zuschauer war in der achten Reihe des vierten Rangs mit einer Herzattacke zusammengebrochen und musste von fünf Notärzten mehr als 15 Minuten lang reanimiert werden. Er wurde schließlich in kritischem Zustand mit Herzflimmern ins Krankenhaus eingeliefert. „Der Sport ist in solchen Augenblicken nur Nebensache. Wir waren alle in Gedanken bei dem Mann“, sagte Kiels Jicha. Dass das Spiel trotzdem angepfiffen und erst acht Minuten später für zwölf Minuten unterbrochen wurde, blieb unverständlich. Bundesligaspielleiter Uwe Stemberg entschuldigte sich später: „Die entsprechende Information war bei mir nicht rechtzeitig angekommen.“ Auch Kiels Manager Klaus Elwardt schien mit der Situation überfordert: „Wir mussten uns erst ein Bild von dem Vorfall machen, bevor wir handeln konnten.“ Der Hallensprecher hatte allerdings schon vor dem Anwurf auf die Reanimation aufmerksam gemacht und die Zuschauer um emotionale Zurückhaltung beim Anfeuern ihrer Mannschaften gebeten.

Tore, THW Kiel: Vujin 10 (4 Siebenmeter), Jicha 9 (1), Palmarsson 4, Sprenger 3, Jallouz 3, Klein 2, R. Toft Hansen 2, Wiencek 1, Ekberg 1; HSV Hamburg: Cañellas 6, Lindberg 5 (1), Nilsson 4, Pfahl 3, Markovic 3, Duvnjak 2, Jansen 1. Schiedsrichter: Schulze/Tönnies (Magdeburg). Zuschauer: 10.285 (ausverkauft). Zeitstrafen: 5; 4. Siebenmeter: 7 (5 wurden verwandelt); 2 (1).