Pokal-Erfolg des HSV bei den Rhein-Neckar Löwen stärkt das Selbstvertrauen des kriselnden Meisters - und festigt die Position des Trainers.

Mannheim. Nervös? Warum sollte er nervös gewesen sein? Michael Kraus hatte doch nur getan, was er in den vergangenen Wochen, ja Monaten bis zur Erschöpfung getan hatte: sich an die Strafwurflinie zu stellen und den Ball aufs Tor zu werfen, um nicht gänzlich das Gefühl für den eigenen Beruf zu verlieren. Richtig Handball zu spielen, daran war ja mit seinem kaputten Knie und der maladen Wade nicht zu denken. Es sei also im Grunde eine dankbare Aufgabe gewesen, in der letzten Minute der Verlängerung des Pokalspiels bei den Rhein-Neckar Löwen am späten Mittwochabend erneut die Verantwortung zu übernehmen und den HSV Hamburg mit dem achten verwandelten Siebenmeter zum 33:32 ins Viertelfinale zu werfen. "Für diese Momente macht man es doch", sagte Kraus.

Erst am Nachmittag hatte ihm Per Carlén diese Aufgabe übertragen. Zwei Überlegungen hatten den Trainer bewogen, Hans Lindberg das Exklusivrecht beim Strafwurf zu entziehen. Dem Rechtsaußen hatten viele die 25:30-Niederlage am Sonntag in Kiel angelastet, die den Meister schon zum gefühlten Exmeister hat werden lassen. Lindberg, eigentlich ein brillanter Schütze, hatte vier von acht Siebenmetern vergeben. "Es war wichtig, Hans von dieser Last zu befreien", sagte Carlén. Die ganze Mannschaft habe deshalb im Training Siebenmeter geübt, wobei sich Kraus hervortun konnte.

Kraus: "Wir wollen unbedingt in unser Wohnzimmer"

Aber natürlich wollte Carlén auch Tomas Svensson, seinen alten Kumpel aus der schwedischen Nationalmannschaft, ein wenig überraschen. Svensson, 43, stand von 2002 bis 2005 im HSV-Tor. Seit einigen Monaten gehört er dem Trainerstab der Löwen an. Carlén war sich sicher, "dass Tomas jede denkbare Wurfvariante von Hans Lindberg mit seinen Torhütern einstudiert hat". Auf Kraus aber, der es in der Saison nur auf zwei Kurzeinsätze gebracht hatte, sei selbst der Perfektionist Svensson sicher nicht vorbereitet gewesen.

So kam es, dass Kraus in seinem 50. Spiel für den HSV vielleicht nicht der beste, aber doch der wertvollste Spieler wurde. Man mag sich kaum ausdenken, dass der HSV drei Tage nach der Meisterschaft auch den zweiten Titel verspielt hätte! Viel fehlte nicht, 14 Sekunden nur trennten die Löwen in der regulären Spielzeit vom Sieg. Binnen acht Minuten hatten sie eine Fünf-Tore-Führung weggeworfen. Carlén konnte hinterher von Glück reden, von der "unglaublichen Moral" auch, die es brauche, um einen solchen Rückstand wettzumachen.

Tatsächlich hatte Lindbergs Ausgleichstreffer zum 28:28 nicht nur die Verlängerung in diesem Spiel, sondern wohl auch die Verlängerung von Carléns fünfmonatiger Amtszeit bedeutet. Über seine Abberufung im Fall einer Niederlage war zuvor mehr oder weniger offen spekuliert worden. Vor allem die Niederlage in der Vorwoche in Lübbecke hatte den Trainer in Erklärungsnot gebracht. Nun aber wies Carlén nach, dass er nicht nur den Motivator geben kann, sondern sich auch auf taktische Kniffs versteht. Kraus aufzustellen war beileibe nicht sein einziger. Als sich am Anfang der zweiten Halbzeit im eigenen Angriffsspiel Hektik breitmachte, sandte Carlén zur Beruhigung Guillaume Gille als Spielmacher aufs Feld. Es funktionierte. In der Schlussphase beorderte Carlén drei Spieler aus dem Abwehrverbund am Kreis nach vorn. Eine riskante und kraftraubende Variante, die im besten Fall aber den Gegner zu technischen Fehlern verleiten kann. Auch diese taktische Variante funktionierte bestens.

Carlén wollte es später genau so erwartet haben: "Die Löwen haben ja schon einige Spiele in der Schlussphase noch aus der Hand gegeben. Ich dachte mir schon, dass sie noch nervös werden." Auch dass er Torsten Jansen zunächst nicht einmal im Spielberichtsbogen verzeichnet hatte, erschien hinterher nicht als Demütigung des Weltmeisters von 2007, sondern als gewiefter Schachzug. Jansen, gut erholt, verrichtete in der Verlängerung noch wertvolle Deckungsarbeit.

"Manchmal muss man ein Zocker sein", sagte der Trainer später lachend und gab jedem Zuhörer einen Klaps auf die Schulter. Er hatte viel riskiert und alles gewonnen. Der Pokalerfolg sei "eine ideale Vorlage" für die drei Heimspiele gegen Wetzlar (Sonnabend), Magdeburg (21. Dezember) und Göppingen (27. Dezember), die bis zur EM-Pause verbleiben. Er könnte krampflösend wirken. "Es war sehr wichtig fürs Selbstvertrauen, ein so enges Spiel zu gewinnen", sagte Torhüter Dan Beutler. Er hatte kurz vor Schluss den Ausgleichstreffer der verletzungsgeplagten Mannheimer verhindert.

Kraus versprach, dass man auf den Pokalwettbewerb nun besondere Konzentration legen werde. Ein Heimspiel wünschen sie sich beim Meister für die Auslosung des Viertelfinales am Sonnabend. Letztmals durfte der HSV vor drei Jahren zu Hause antreten.