HSV Hamburg verliert ein Klassespiel beim THW Kiel mit 25:30. Der Titel ist wohl futsch. Hans Lindberg verwirft gleich vier Siebenmeter.

Kiel. Kalt war es in den Katakomben der Kieler Sparkassen-Arena. Die Organisatoren hatten Heizlüfter aufstellen lassen, damit die Handballer beim Interview keine Erkältung riskieren. Pascal Hens beachtete sie nicht, obwohl er in der zweiten Halbzeit nicht mehr zum Einsatz gekommen war. Mit geröteten Wangen lehnte der Kapitän des HSV an der nackten Betonwand und suchte nach den passenden Worten für die 25:30-(12:15-)Niederlage des deutschen Meisters beim THW Kiel.

"Wir hatten sie am Rande einer Niederlage", haderte Hens, während von drinnen der Lärm von mehr als 10 000 euphorisierten Fans hereinschwappte, die ihn zuvor bei jedem Ballkontakt ausgebuht hatten, "aber in Kiel musst du die Fehlerzahl minimieren. Das ist uns nicht gelungen." Über die Meisterschaft brauche man jetzt nicht mehr zu reden: "Kiel hat null Minuspunkte und spielt überragend, wir haben acht. Das sagt alles." Zahlen haben bekanntlich eine klare Sprache. Sie verschweigen jedoch die vielen Zwischentöne, die dieses Bundesligaspitzenspiel zu einem handballerischen Gesamtkunstwerk gemacht hatten, zu einer der intensivsten Partien der vergangenen Jahre. Da war auf der einen Seite der THW Kiel, der die Hamburger in der Anfangsphase überrannte wie seine 15 Gegner in der Liga zuvor. Kein Spielzug, den HSV-Trainer Per Carlén in den vergangenen Wochen gegen die offensive Kieler Abwehr eigens hatte einstudieren lassen hatte, führte zum Erfolg. Als Filip Jicha nach 20 Minuten einen Tempogegenstoß zum 12:6 abschloss und Hamburgs Rechtsaußen Hans Lindberg im Gegenzug mit einem Siebenmeter an Kiels formidablem Torhüter Thierry Omeyer scheiterte, drohte sogar ein Debakel.

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Dass es nicht so kam, zeugt vom charakterlichen Zustand dieses HSV. Position für Position justierte Carlén um, bis sein Konzept zu greifen begann. Der Kieler Rückraum kam kaum noch zum Wurf, immer wieder eröffneten sich den Hamburgern Chancen zum schnellen Gegenangriff. Einen vollendete Lindberg nach 39 Minuten in Überzahl zum 18:19, der ersten Hamburger Führung in diesem Spiel. "Man hat heute den Meister gesehen", sagte Kiels Trainer Alfred Gislason später anerkennend, "der HSV hat gezeigt, dass er eine große Mannschaft hat."

In der vergangenen Saison hatte sich der Titelverteidiger im Heimspiel gegen die Kieler nach anscheinend aussichtslosem Rückstand noch zum Sieg gekämpft. Es sollte der Grundstein zum Gewinn der Meisterschaft gewesen sein. Gestern wiederholte sich diese Geschichte nicht. Vielmehr zeigten die Kieler ebenjene Qualität, wie sie wohl nur Meister haben. Nach Duvnjaks Ausgleichstor zum 25:25 (52. Minute) sperrte Omeyer sein Tor zu, und im Angriff nutzten seine Mitspieler jede sich bietende Gelegenheit zum Erfolg. So geriet der Sieg am Ende viel höher, als er gefühlt ausgefallen war.

Allein Lindberg hätte diesem Spiel eine andere Wendung geben können. Achtmal trat er zum Siebenmeter an, viermal scheiterte er: zweimal an Omeyer, einmal an dessen Kollegen Andreas Palicka, einmal am Pfosten. Auf der Gegenseite war Momir Ilic bei allen acht Strafwürfen erfolgreich. "Hans wollte es gern weiter versuchen, deshalb habe ich keinen anderen Schützen bestimmt", erklärte Carlén. Lindberg schob dem Trainer die Verantwortung zu: "Wenn er sagt, dass ich werfen soll, werfe ich. Ich habe immer Vertrauen in meinen Wurf."

Müßig zu spekulieren, wie die Sache wohl ausgegangen wäre, wenn Lindberg das Glück nicht verlassen hätte. Oder wenn Johannes Bitter mehr als elf Würfe abgewehrt hätte - Omeyer brachte es auf 16 Paraden. Wenn Marcin Lijewski weniger als sechs Fehlwürfe und drei Ballverluste unterlaufen wären. Oder wenn Spielmacher Michael Kraus seinen Muskelfaserriss in der Wade rechtzeitig auskuriert hätte. Die Meisterschaft des HSV sieht seit gestern jedenfalls aus wie ein Betriebsunfall des THW, der sich anschickt, den Startrekord des TBV Lemgo (34:0 Punkte) zu brechen und zum 17. Mal deutscher Meister zu werden. Für den HSV steht am Mittwoch im Pokalachtelfinale bei den Rhein-Neckar Löwen das nächste Saisonziel auf dem Spiel. "Dafür können wir aus dieser Partie Selbstvertrauen mitnehmen", fand Carlén. Man darf gespannt sein, wie er das seinen geknickten Profis vermittelt.

Tore, Kiel: Ilic 10 (8 Siebenmeter), Jicha 5, Ahlm 4, Sprenger 3, Klein 3, Palmarsson 2, Andersson 1, Zeitz 1, Narcisse 1; HSV Hamburg: Lindberg 9 (4), Vori 4, Duvnjak 3, Flohr 3, Lackovic 2, Lijewski 2, B. Gille 1, Hens 1. Schiedsrichter: Damian/Wenz (Bingen/Mainz). Zuschauer: 10 285 (ausverkauft). Zeitstrafen: 2; 5.