Hamburgs Handballer stehen nach der überraschenden Niederlage des Verfolgers vor ihrem ersten Titel - und wollen davon nichts wissen

Hamburg/Kiel. Als Martin Schwalb am Dienstagabend von der 25:28-Heimniederlage des THW Kiel gegen den TV Großwallstadt erfuhr, griff der Trainer der HSV-Handballer sofort zu seinem Mobiltelefon - und schaltete es ab. "Kurze Zeit später bin ich dann ins Bett gegangen", erzählt er.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen scheint auch am Tag danach die Devise des Bundesliga-Tabellenführers zu sein. "Ich weiß nur, dass wir gleich Training haben. Für alles andere sind Wahrsager oder Propheten zuständig", knurrt Schwalb kurz nach dem Betreten der Vereinsgeschäftsstelle in der Volksbank-Arena. Sechs Punkte Vorsprung auf den Titelverteidiger aus Kiel bringen die Hamburger ohne eigenes Zutun plötzlich in die komfortable Lage, in den restlichen acht Saisonspielen, drei zu Hause in der O2 World, fünf auswärts, fünf Punkte abgeben zu dürfen. Das sind zwei mehr als in den bisherigen 26 Begegnungen. "Jetzt ist die Meisterschaft entschieden", meint dann auch Kiels ehemaliger Nationalspieler Christian Zeitz, "eigentlich können wir dem HSV schon zum Titel gratulieren. Wir haben ihn nicht mehr verdient." Und Abwehrchef Daniel Kubes glaubt: "Das werden sich die Hamburger wohl kaum noch nehmen lassen."

Es sind gerade diese Sirenentöne, die derzeit beim HSV niemand vernehmen will. "Wir müssen weiterarbeiten, uns auf jedes Spiel neu konzentrieren, dann können wir hoffentlich Anfang Juni das ernten, was wir in den vergangenen Monaten gesät haben", sagt HSV-Mannschaftskapitän Guillaume Gille. Und Rechtsaußen Stefan Schröder, wie immer ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen, ergänzt: "Es ist doch überhaupt nichts passiert. Wir haben weiter acht Bundesligaspiele vor uns, die wollen wir nach wie vor gewinnen."

Es sind die bekannten und erwarteten Reaktionen von Berufssportlern, die wissen, wie fragil Momentaufnahmen sind. Noch vor zwei Tagen wähnten sich schließlich die Kieler in einer guten Ausgangslage im Titelkampf, das Heimspiel gegen den HSV am 20. April vor der Brust, "weil alle Verletzten zurückgekehrt waren, wir zuletzt einen hervorragenden Handball gespielt und stets hoch gewonnen haben", wie THW-Spielmacher Filip Jicha sagt. "Wir haben Großwallstadt nicht unterschätzt, aber möglicherweise sind wir ein Stück zu locker in dieses Spiel gegangen. Das hat sich gerächt." Nach 1239 Tagen verloren die Kieler wieder ein Heimspiel - und Rechtsaußen Christian Sprenger mit Innenbandanriss im linken Knie. Der letzte Bezwinger in der damaligen Ostseehalle hieß HSV. Der Koreaner Kyung-Shin Yoon warf zwei Sekunden vor Schluss den Siegtreffer zum 31:30. Am Ende der Saison wurde Kiel souverän Meister, der HSV mit Mühe Dritter.

Der schmale Grat zwischen der gewünschten Lockerheit und der notwendigen Ernsthaftigkeit ist bei dem Arbeitspensum einer Handballmannschaft mit bis zu drei Spielen in acht Tagen nicht immer leicht zu finden. Auch die Hamburger waren kürzlich der Verlockung erlegen, das Achtelfinalhinspiel der Champions League gegen BM Valladolid zum Durchschnaufen zu benutzen. Erst in der zweiten Halbzeit schalteten sie ihr Energierückgewinnungssystem wieder ein und wendeten einen Halbzeitrückstand von 11:15 zu einem 28:22-Erfolg. Fünf Tage vorher hatte der HSV beim 35:22 in Berlin sein bislang bestes Saisonspiel geliefert. "Da haben wir viel zu viel Lob zu hören bekommen", klagte Schwalb nach dem Champions-League-Spiel.

Die Ausreißer nach unten hat der HSV in dieser Saison auf ein Minimum begrenzen können. Das ist meisterlich. Der Trainer lobt vor allem die Kontinuität und Stabilität seines Teams, den Einsatz seiner 15 Profis in unzähligen Übungseinheiten, die Gewissenhaftigkeit bei der Berufsausübung in 26 Bundesligaspielen, von denen nur das erste in Göppingen knapp verloren ging. Serien dieser Art haben in der jüngeren Vergangenheit nur der TBV Lemgo oder wiederholt der THW Kiel hingelegt. Beide Klubs wurden Meister, Kiel zuletzt sechsmal in Folge. "Der HSV wird es diesmal schaffen, und das wäre auch hochverdient", sagt Bob Hanning, der ehemalige HSV-Trainer (bis Mai 2005) und heutige Geschäftsführer des Tabellenvierten Füchse Berlin. Keine Mannschaft sei in der Tiefe ihres Kaders besser besetzt als die Hamburger.

Als 2002 der VfL Bad Schwartau nach Hamburg wechselte, hatten sich die Macher um Winfried Klimek den Gewinn der deutschen Meisterschaft zum Ziel gesetzt. 58 Jahre nach dem letzten Triumph einer Hamburger Mannschaft, der SV Polizei, könnte es nun eingelöst werden, etwas anders, als von Klimek einst gedacht. Der musste 2004 wegen geschäftlichen Betrügereien mit seinem Firmengeflecht ins Gefängnis, der Ahrensburger Medizinunternehmer Andreas Rudolph rettete den Verein vor der Insolvenz und päppelte ihn mit seinen Millionen, mehr als 20 bis heute, neben dem THW Kiel, Ciudad Real und dem FC Barcelona zu einer der vier besten Handballmannschaften der Welt auf. Dass Kiel zumindest national das Maß bleibt, stellt bei 16 Meistertiteln und zwei Champions-League-Siegen des THW beim HSV niemand infrage. Solche Vergleiche würden sich verbieten, heißt es. "Wir sind Tabellenführer, mehr nicht", stellt Schwalb klar.