Die sportliche Zukunft des HSV Hamburg bleibt ungewiss. Am Sonntag gastiert Rekordmeister THW Kiel in der ausverkauften O2 World.

Hamburg. Martin Schwalb, 49, wirkt erschöpft. "Die vergangenen vier, fünf Monate waren wirklich hart", sagt der Trainer und Präsident des Handball-Sport-Vereins Hamburg, "sie haben bei mir nicht nur im Gesicht Spuren hinterlassen." Zum sportlichen Frust, dem Absturz auf Tabellenplatz vier der Bundesliga, zur Gefahr, zum ersten Mal seit 2007 wieder die Champions League zu verpassen, kommt die Ungewissheit über die Zukunft des Vereins.

Als "erfolglos, planlos, ziellos" beschreibt der Sport-Informations-Dienst die derzeitige Lage beim noch amtierenden deutschen Meister, der am Sonntag in der ausverkauften O2 World (13.10 Uhr; Sport1 live) seinen Nachfolger empfängt, den THW Kiel. Schwalb widerspricht dieser Einschätzung vehement: "Der Verein ist nach wie vor gut aufgestellt und voll handlungsfähig. Wir werden in den nächsten Wochen deutliche Signale setzen, sagen, was wir wollen und was passieren wird."

Dafür müssten zunächst die Finanzen geklärt werden. Sieben Wochen vor Beginn der nächsten Saison steht die Größenordnung des neuen Etats weiter nicht fest. Alles hängt - wieder einmal - an Andreas Rudolph, 57, dem Mehrheitsgesellschafter der Spielbetriebs-GmbH und Mäzen des Klubs. Der Ahrensburger Medizinunternehmer (GesundHeits GmbH Deutschland) hatte intern wiederholt erklärt, sein privates Millionen-Engagement im Sommer auf null zurückfahren zu wollen: "Ich bleibe Sponsor, aber darüber hinaus kriegt ihr keinen Cent mehr extra von mir."

+++ Torsten Jansen: "Wir denken zu defensiv" +++

In den vergangenen Jahren gehörten solche Äußerungen zu Rudolphs Machtspielen. Niemand in Präsidium und Aufsichtsrat nahm sie am Ende noch ernst, selbst wenn Rudolph schriftlich seinen Rückzug erklärte - was er des Öfteren tat. Drohte die Situation zu eskalieren, schickte Trainer Schwalb die beiden Mannschaftsführer Pascal Hens und Guillaume Gille in Rudolphs Hamburger Anwesen am Innocentiapark. Die kehrten stets mit Erfolgsmeldungen zurück. Rudolph, erzählt man sich im Verein, habe den Spielern bislang kaum einen Wunsch abschlagen können. Die emotionale Nähe zu ihnen sei seine Hauptmotivation für seinen Einsatz beim HSV. Vertragsverhandlungen führten die Profis deshalb am liebsten mit dem Boss. Wenn danach auf der Geschäftsstelle die Frage aufkam, ob die avisierten Gehaltssummen brutto oder netto gemeint seien, erwiderte Rudolph schon mal: "Ich weiß nicht mehr. Macht, was ihr wollt."

Solche Szenarien könnten der sorgenfreien Vergangenheit angehören. Rudolph scheint diesmal entschlossen, sich nicht erneut von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Zu viel ist schließlich in dieser für ihn enttäuschenden Saison passiert. Nach drei Spielen, nach den Niederlagen in Berlin und Mannheim, hatte der HSV die Titelverteidigung abgehakt. Dann ließ Rudolph Ende Dezember Trainer Per Carlén entlassen, den er bei dessen Verpflichtung als das Nonplusultra gepriesen hatte. Die Klagen der Spieler über Training und Coaching des Schweden revidierten schnell seine Meinung. Kosten der Trennung: rund 600 000 Euro. Rudolph übernahm sie. Carléns Vertrag läuft noch bis 2014.

Hinzu kamen Forderungen des Finanzamtes. Steuerfreie Sonntags- und Nachtzuschläge seien von der HSV-Buchhaltung zu großzügig angesetzt worden, monierten die Beamten, zudem bewerteten sie die Ausgabe von Freikarten an Funktionäre und die Besuche der Spielerfrauen im VIP-Bereich der O2 World als geldwerten Vorteil. Rund eine halbe Million Steuern soll der HSV nachzahlen.

Damit nicht genug. Seit seinem Amtsantritt als Präsident Ende Dezember 2004 hatte Rudolph die Defizite der Spielbetriebsgesellschaft ausgeglichen, Darlehen gewährt und für die nötige Liquidität gesorgt. Seine Zuwendungen dürften sich inzwischen auf mehr als 20 Millionen Euro summiert haben. Die Finanzbeamten stellten sich nun auf den Standpunkt, diese Ausgaben seien steuerlich nicht als Geschäftsaufwendungen abzusetzen. Sie fordern von Rudolph Nachzahlungen in Millionenhöhe. Eine Entscheidung steht aus.

Martin Schwalb will all diese Vorgänge nicht kommentieren. "Fakt ist", sagt er, "wir werden uns mit Andreas Rudolph zusammensetzen. Es ist absolut nicht so, dass da irgendwelche Sachen bereits entschieden sind."

Der Verein hat sich dennoch auf den Worst Case eingesellt und seine hohen Personalkosten vorsorglich gesenkt. Bertrand und Guillaume Gille verlassen Hamburg im Juli in Richtung Chambery, der Vertrag mit Marcin Lijewski wurde nicht verlängert. Blazenko Lackovic (bis 2014) und Torsten Jansen (bis 2013) wiederum mussten für den Erhalt neuer Arbeitspapiere Gehaltseinbußen hinnehmen. Torhüter Johannes Bitter wird nach seinem Kreuzbandriss wohl bis zum Jahresende von der Berufsgenossenschaft bezahlt. Die Gesamtersparnis beläuft sich auf geschätzt 1,7 Millionen Euro. Das ist ungefähr die Summe, die Rudolph zuletzt nebenher zahlte. Da seine Firmen den HSV Hamburg weiter sponsern, er allein seine Zusatzzahlungen einstellen will, bliebe für die nächste Saison immer noch ein Etat von rund 7,5 Millionen Euro. In der Bundesliga stünde nur Rekordmeister Kiel mit zehn Millionen Euro mehr Geld zur Verfügung.

Die bisherigen Neuverpflichtungen, der schwedische Kreisläufer Andreas Nilsson und der französische Nachwuchstorhüter Max-Henri Herrmann, belasten das Budget für die Saison 2012/2013 im Gegenzug mit rund 300 000 Euro. Welche Lösungen sich der HSV auf Lijewskis Position halbrechts und in der Trainerfrage leisten kann, hängt am Ausgang der Gespräche zwischen Schwalb und Rudolph. Der große Wurf, den Schwalb im Januar angekündigt hatte, dürfte es nicht mehr werden. Oder Rudolph ließe sich doch für einen neuen Masterplan begeistern. Ausschließen mag das beim HSV keiner.