St. Paulis neuer Cheftrainer hat verstanden, dass er seinen individuellen Stil finden muss

Hamburg. Der Torschussversuch ist gründlich misslungen. Im hohen Bogen fliegt der Ball, geschossen von einem Spieler der U23-Mannschaft, vom Kunstrasenplatz über den Zaun hinter dem Tor auf den gepflegten Naturrasen, auf dem gerade die Zweitligaprofis des FC St. Pauli trainieren. Der Schütze begibt sich im Joggertempo auf den Weg, um den Ball wiederzuholen, als es laut und vernehmlich über die gesamte Anlage schallt: „Sprinten. Das ist hier wie beim Biathlon. Wer daneben schießt, muss rennen.“

Die wenigen Trainingskiebitze müssen lachen, und auch die Profikicker können sich ein Grinsen nicht verkneifen. Diese kleine Episode ist mittlerweile ein paar Wochen her, damals konnten die Zweitligaspieler noch nicht wissen, dass spontane Ansagen dieser Art künftig ihnen selbst gelten werden. Denn es war niemand anderes als Thomas Meggle, seit Mittwoch Cheftrainer der St.-Pauli-Profis, der den bewussten Biathlonspruch losließ.

Diese Szene charakterisiert auch ganz gut, wie Meggle seinen Beruf als Trainer versteht und mit Leben füllt. „Hart arbeiten und dabei viel Freude haben“, formulierte er es bei seiner Vorstellung selbst. „Fußball ist ja immer noch ein Spiel. Und ein Spiel soll Spaß machen.“ Zu einem Männersport gehört manchmal eben, dass der Spaß kurzfristig auf Kosten eines Einzelnen geht, wie im Fall des Fehlschützen.

Es passt auch ins Selbstverständnis des 39 Jahre alten Familienvaters, dass er die in den vergangenen Jahren in Mode gekommenen, pseudowissenschaftlichen Begriffe des Fußballs argwöhnisch betrachtet. „Warum muss man das, was man immer als Steilpass bezeichnet hat, jetzt unbedingt Vertikalpass nennen?“, fragt er beispielhaft.

Solche Fragen hat er, so berichtet er gern, auch in seiner Ausbildung zum Fußballlehrer immer wieder gestellt und damit den Trainerausbilder Frank Wormuth mit einer heimlichen Freude provoziert. Mit der Verwissenschaftlichung des Fußballs kann sich Meggle nicht wirklich anfreunden, wobei es ihm keineswegs am dafür nötigen Intellekt mangelt – ganz im Gegenteil. Schon als aktiver Spieler war er immer einer, der verschiedene Dinge reflektiert und sich Gedanken über den Tellerrand der Fußballwelt hinaus gemacht hat.

Irgendwie fand er dann auch einen Weg, die Ausbildung zum Fußballlehrer – bei aller Skepsis zu manchen Inhalten – erfolgreich abzuschließen. Sehr erfolgreich sogar. Im März 2013 erhielt er als Zweitbester des Jahrgangs die entsprechende Urkunde. Vor ihm war nur Frank Kramer platziert, also ausgerechnet der aktuelle Trainer der SpVgg Greuther Fürth, die mit dem 3:0-Sieg am vergangenen Montag über St. Pauli den Anlass für die Beurlaubung von Roland Vrabec und die Ernennung Meggles zu dessen Nachfolger gab.

Drittbester des damaligen Lehrgangs war André Breitenreiter, der jüngst den SC Paderborn in die Bundesliga führte und hier, nicht zuletzt dank des 3:0 am vergangenen Sonnabend beim HSV, noch ungeschlagen ist. „Es war ein toller Jahrgang“, bestätigt Meggle, der nun selbst, nur vier Jahre nach dem Ende seiner aktiven Karriere und früher als auch von ihm erwartet, die Chance bekommen hat, sich im Profifußball zu profilieren.

Dabei hat er von Chefausbilder Wormuth einen Rat auf seinen weiteren Karriereweg mitgenommen, für den es kein Kapitel in irgendeinem Lehrbuch gibt: „Jeder muss seinen eigenen Stil finden, seine individuelle Philosophie.“ Diese müsse aber auch zur jeweiligen Mannschaft passen. „Du musst die Spieler ins Boot holen, sie vom Produkt überzeugen.“

So wie Thomas Meggle selbst beim Trainerlehrgang die Inhalte hinterfragt hat, muss er jetzt auch seine Trainings- und Spielideen den Profis erläutern, um diese zu überzeugen. „Die Spieler haben viel mehr Fragen und erwarten viel mehr Antworten, als es früher der Fall war“, sagt er. Damals habe es doch keine Diskussionen darüber gegeben, warum der Ball in einen bestimmten Raum gespielt werden sollte.

Der in München geborene und aufgewachsene Meggle hat diese Gegebenheiten verinnerlicht und auch akzeptiert, dass er die heutige Fußballergeneration mit seinen eigenen sportlichen Verdiensten für den FC St. Pauli nicht mehr sonderlich beeindrucken kann. Also etwa mit der Tatsache, dass er als Mittelfeldspieler mit 13 Saisontreffern maßgeblich am Bundesligaaufstieg 2001 beteiligt war, oder dass er am 6. Februar 2002 mit seinem Tor den 2:1-Sieg gegen den FC Bayern München einleitete und damit zu einem der auf einem T-Shirt verewigten „Weltpokalsiegerbesieger“ wurde.

Einer seiner Weggefährten beim FC St. Pauli war damals Linksverteidiger Christian Rahn, 35, der jetzt, im Herbst seiner aktiven Karriere, als erfahrener Spieler der U23-Mannschaft des Kiezclubs angehört und daher seit rund einem Jahr unter Meggle gespielt hat. „Meggi ist ein akribischer Arbeiter, der viel Wert auf Details legt. Ich traue ihm auf jeden Fall zu, dass er sich als Trainer im Profigeschäft etabliert“, sagt Rahn. Er war übrigens nicht derjenige, der dem hoch über den Zaun geschossenen Ball hinterherrennen musste.