Holger Stanislawski über 18 Jahre St. Pauli, Bauernhöfe im Kraichgau, Käffchen im Grünen und das Verlassen seiner Lebensliebe Hamburg.

Hamburg. Die Spuren der vergangenen Wochen sind deutlich sichtbar. Nur noch 81,5 Kilogramm verteilen sich auf die 186 Zentimeter große Person, die da in Trainingsanzug und Badeschlappen am alten Eingangstor zum Trainingsgelände des FC St. Pauli steht und mit den Augen über das menschenleere Areal schweift. Holger Stanislawski sammelt in diesen Tagen Erinnerungsstücke für die Sinne: Bilder, Geräusche, Gerüche. All das, was er nicht mitnehmen kann. Der 41-Jährige wechselt im Sommer nach 18 Jahren beim FC St. Pauli als Trainer zum Bundesligaklub TSG Hoffenheim. Doch auch wenn seine Gesichtszüge eingefallen sind, die Augen strahlen. Stanislawski wirkt erleichtert. Die Vorfreude hat den Kampf gegen die Wehmut gewonnen. Seit der emotionalen Bekanntgabe seines Abschieds ist eine Last gewichen. Im Abendblatt spricht er erstmals darüber.

Hamburger Abendblatt: Herr Stanislawski, haben Sie sich schon nach einem Bauernhof im Kraichgau umgeschaut?

Holger Stanislawski: Nein, und das habe ich auch nicht vor. Ich werde zunächst in einem kleinen Hotel wohnen. Mein Arbeitstag wird anfangs sicherlich 15, 16, 18 Stunden haben. Die meiste Zeit werde ich auf dem Trainingsgelände verbringen. Deshalb bleibt meine Frau auch erst mal in Hamburg.

Welche Rolle hat sie während Ihrer 18 Jahre beim FC St. Pauli gespielt?

Stanislawski: Meine Frau und meine Familie waren wahnsinnig wichtig. Es ist entscheidend, dass du Leute hast, die dich abseits deiner Funktion im Beruf wirklich kennen. Die dir sagen, wenn etwas in die falsche Richtung läuft, du dich veränderst. Nur so kannst du dich richtig reflektieren. Das hängt sicher auch mit meiner Erziehung zusammen. Schon mit meiner Familie hatte ich immer eine Mannschaft um mich herum, bin also von Haus aus Teamplayer.

Was bleibt nach nahezu zwei Jahrzehnten St. Pauli hängen?

Stanislawski: Die Erinnerung an sehr viele Menschen, die man lieb gewonnen hat. Die enge Beziehung zu meinem Trainerteam mit André Trulsen und KaPe Nemet ist ja bekannt. Aber auch Leute wie mein ehemaliger Mitspieler Oliver Schweißing oder das Team um das Team herum: Christian Bönig, Josip Grbavac, Torsten Vierkant, Siggi Dous. Brigitte, unsere ehemalige Klubheimwirtin, ihre Schwester Kirsche. Das sind alles Leute, bei denen ich mich auch mal fallen lassen konnte.

Der Verein erlebte in Ihrer Zeit auch einige dunkle Stunden ...

Stanislawski: ... die natürlich auch bei mir noch sehr präsent sind: die sportlichen Abstiege, die Fast-Insolvenz im Jahr 2003 oder der Gerichtsstreit zwischen Aufsichtsrat und Präsidium 2007. Mich persönlich verfolgt aber eine andere Geschichte. Als ich Jens Scharping, meinem ehemaligen Mitspieler, sagen musste, dass er keinen neuen Arbeitsvertrag bekommt. Das war brutal. Der "Dicke" war einer der wenigen Fußballer, die mir sehr viel bedeutet haben. Das war eine Entscheidung, die ich treffen musste. Als Manager-Trainer gegen den Willen des Menschen Stanislawski.

Sie waren nicht nur Spieler, Manager und Trainer. Von 2004 bis 2006 saßen Sie auch noch als Vize im Präsidium.

Stanislawski: Das war super lehrreich. Wir wussten nicht, wie wir am 28. eines Monats die Gehälter oder die Müllabfuhr bezahlen sollten. Wir saßen oft bis morgens um halb fünf im "Glanz und Gloria". Ich muss wirklich Corny Littmann noch mal meinen größten Respekt aussprechen. Was der da an Zeit neben seinen anderen Verpflichtungen reingeschossen hat, war unglaublich.

Umso mehr müssten Sie die aktuelle Situation zu schätzen wissen.

Stanislawski: Sicher. Aber ich habe nie damit gerechnet, dass das alles eine solche Entwicklung nehmen würde. Wir sitzen hier bei strahlendem Sonnenschein auf einem neuen Trainingsgelände mit einem Kunstrasenplatz für ein halbe Million Euro. Wahnsinn!

Haben Sie mal darüber nachgedacht, wo Sie heute sitzen würden, wenn Sie als Spieler eines Ihrer Angebote angenommen und den Verein verlassen hätten?

Stanislawski: Was wäre, wenn? Das habe ich mich schon mehrfach gefragt. Die Vertragsverlängerungen bei St. Pauli waren aber die besten Entscheidungen meines Lebens. Ich wäre wohl sonst auch nie Trainer geworden. Ich habe diesem Klub vieles zu verdanken.

Gab oder gibt es Berufsalternativen?

Stanislawski: 2001 begann ich eine dreijährige Ausbildung zum Reha- und Präventionstrainer. Ich sammelte alles zusammen, was ich fand, begann mich für Ernährungsfragen zu interessieren. Die Ordner habe ich heute noch. Ich denke, wenn ich damals den Klub verlassen hätte, wäre ich heute Athletiktrainer.

Ihre viereinhalbjährige Trainerlaufbahn als Chefcoach ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie das Zeug dazu haben?

Stanislawski: Nach dem zweiten Spiel dachte ich: Hey, so wie du Fußball denkst, das greift. Wir hatten 2:0 gegen Magdeburg gewonnen. Als Trainer erlebte ich auch den schönsten Moment überhaupt in den 18 Jahren. Der 2:0-Sieg 2007 bei Werder Bremen II, mit einer braun-weißen Wand aus Fans, die das halbe Stadion eingenommen hatten, war überwältigend. Da dachte ich: Oha. Wir können die Rückkehr in die Zweite Liga schaffen.

Gibt es einen Trainer, der Sie besonders geprägt hat?

Stanislawski: Eckhard Krautzun. Als Trainer war er teilweise von einem anderen Stern. Aber menschlich hat er mir unheimlich imponiert. Sportlich habe ich von vielen etwas mitgenommen. Als Spieler habe ich ja einige erlebt.

Kamen Sie im Jahr 1993 eigentlich bereits als Fan in den Klub?

Stanislawski: Überhaupt nicht. Ich kam vom SC Concordia, war vorher ein paar Mal am Millerntor gewesen, aber generell nicht so der Stadiongänger. Ich trieb mich eher auf den Amateurplätzen rum. Ich kann die Spieler, die zu uns kommen und erzählen, dass sie immer schon wegen der Fans und des Kults und so unbedingt zu St. Pauli wollten, nicht verstehen. Mir ist das viel zu oberflächlich. Ich denke, dass ich St. Pauli mittlerweile sehr gut kenne, aber längst nicht alles weiß und verstehe.

Und dennoch gehen Sie nun.

Stanislawski: Man muss aufpassen, dass man das, was man wirklich liebt, nicht zu hassen beginnt. Wenn einen negative Dinge mehr beschäftigen als die schönen, ist es an der Zeit, etwas zu verändern. Der Tag, als ich meinen Abschied erklärte, war gleichwohl der traurigste meiner Zeit bei St. Pauli. Der Weg zum Trainingsgelände war schlimm und dann der Gang vor die Mannschaft. Ich hatte mir Notizen gemacht, wusste aber nicht recht, wie ich es sagen soll. Als ich dann anfing zu sprechen, wusste ich schon, dass ich emotional nicht die Kontrolle behalten würde. Dazu sind mir die Jungs zu sehr ans Herz gewachsen. Einige werde ich richtig vermissen.

Verraten Sie uns, wen?

Stanislawski: Timo Schultz, Fabian Boll, Florian Lechner, Marcel Eger, Fabio Morena, Carsten Rothenbach, Florian Bruns - die Alteingesessenen, aber auch einen Deniz Naki. Da habe ich versucht, auch Freund und Kumpel zu sein.

Inwieweit steht die aktuelle Spielergeneration noch für St. Pauli, wie Sie es taten?

Stanislawski: Ich bin ja so etwas wie eine aussterbende Rasse. Dass man 18 Jahre einem Klub die Treue hält, gibt es nicht mehr wirklich oft. Deswegen war es auch ein besonderer Abschied.

Weshalb haben Sie diesen fünf Spieltage vor Saisonende verkündet?

Stanislawski: Es wurde mehr und mehr spekuliert, und da habe ich gesagt: Stopp! Das ist etwas, das ich selbst erklären möchte. Das war mir wichtig.

Können Sie nachvollziehen, dass Kritiker hinterfragen, wie ein Trainer in Zeiten des Abstiegskampfs 35 Minuten lang über seine eigene Person sprechen kann?

Stanislawski: Absolut. Es gibt auch Leute, die sagen: "Jetzt, wo sie wahrscheinlich absteigen, geht er." Das sind die, die immer etwas finden. Der Abschied ist eine Entscheidung, die ich zu meinem Wohl und unabhängig vom Saisonausgang getroffen habe. Zumal St. Pauli mir ein finanziell definitiv besseres Angebot als Hoffenheim gemacht hat.

Gab es noch andere Interessenten?

Stanislawski: Fünf, sechs Vereine haben angeklopft. Es würde aber nicht jeder Klub im Moment zu mir passen. Champions League käme für mich noch zu früh, und ich brauche etwas, das losgelöst ist von dem Traditionsgedanken, der besonderen Fankultur. Sonst fängt man an zu vergleichen.

Und Hoffenheim passt?

Stanislawski: Da ist alles noch in der Entwicklung, die Grundvoraussetzungen sind aber top: viele junge Spieler, ganz viel Potenzial, super Bedingungen. Meinem Berater Marc Kosicke und meiner Frau habe ich immer gesagt, dass Hoffenheim der interessanteste Klub für den ersten Wechsel ist. Aber final wurde es erst in den letzten Wochen.

Was für einen Eindruck haben Sie von Mäzen Dietmar Hopp gewonnen?

Stanislawski: Du hast dieses Bild eines unerreichbaren Milliardärs, aber den triffst du morgens beim Bäcker. Er ist nett und zuvorkommend, bescheiden.

Haben ihm seine Kritiker in den vergangenen Jahren unrecht getan?

Stanislawski: Ich habe immer gesagt, dass ich das Projekt Hoffenheim richtig gut finde, weil die nicht losgehen und zehn Nationalspieler kaufen, sondern auch in Talente investieren. Ob das Geld von Bayer, VW, Telekom, Audi oder Dietmar Hopp kommt, finde ich zweitrangig. Wichtig ist, was du umsetzen willst, und der Weg dahin. Im Moment ist da nur eine gewisse Lethargie da.

Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?

Stanislawski: Mich weiterzuentwickeln, neue Eindrücke zu bekommen. Ich will meinen Input einbringen, will aber auch dazulernen. Mit der Mannschaft möchte ich das kleine gallische Dorf, das sich auflehnt, wieder beleben.

Hätte ein St. Paulianer das Potenzial, nächste Saison in Hoffenheim zu spielen?

Stanislawski: Ich glaube schon, dass der eine oder andere dabei ist, der diese Entwicklungsmöglichkeiten hat. Ein Bastian Oczipka hat sich bei uns im Vergleich zu seiner Zeit in Rostock fantastisch entwickelt, Fin Bartels auch. Ein Dennis Daube hat jetzt ebenfalls den Sprung geschafft. Die haben das Potenzial, dauerhaft Bundesliga zu spielen, um nur einige zu nennen.

Wie viel St. Pauli nehmen Sie selbst mit?

Stanislawski: Viel. Ich sehe mich ja als ein Stück St. Pauli, insofern pflanze ich da auch ein Stück mit ein. Ich werde mich nicht verändern, nicht auf einmal im Nadelstreifenanzug durch die Gegend hüpfen, sondern weiter Jeanshose und Kapuzenpulli tragen.

Sind Sie, was Hoffenheim zur bundesweiten Akzeptanz fehlt?

Stanislawski: Grundsätzlich muss jeder Verein sein Leitbild haben, das aber nicht kopiert sein sollte. Ich glaube, dass sich der Verein und ich gut ergänzen. Für mich ist das ein gänzlich anderes Arbeiten mit Dingen, die ich hier über Jahre nicht hatte oder kannte. Für die kommt einer, der sich auch mal hinstellt und sagt: "Jetzt schnallen wir uns alle an, und ab geht's."

Gibt es eine Zielvorgabe des Klubs?

Stanislawski: Dass die vorhandenen Potenziale abgerufen werden, wie die Einbindung des Nachwuchses. Natürlich hat auch niemand etwas dagegen, wenn wir schön und erfolgreich spielen. Es gibt aber keine Vorgabe, dass wir in der übernächsten Saison international spielen müssen oder Ähnliches. Ich gehe erst mal für drei Jahre runter. Wenn das alles funktioniert, kann ich mir aber vorstellen, dass das auch länger läuft.

Sie verlassen jetzt nach 41 Jahren Hamburg. Wie schwer ist es, über seinen eigenen Schatten zu springen?

Stanislawski: Nicht so schwer, wie viele denken. Ich bin nicht jemand, der hier in Hamburg ständig das kulturelle Überangebot nutzt. Ich bin froh, wenn ich in meiner wenigen freien Zeit im Grünen sein kann, mit einem Tässchen Kaffee und einem Stück Kuchen.

Klingt fast spießig. Können Sie sich einen Lebensabend im Kraichgau vorstellen?

Stanislawski: Ich glaube, dass wegen meiner Familie Hamburg immer mein Lebensmittelpunkt bleiben wird. Irgendwann kommt ein Seemann immer zurück. Zunächst freue ich mich darauf, an freien Tagen nach Hamburg zu fahren. Die genießt du dann ganz anders, besuchst Vaddern, Kumpels, holst dir dann deinen Kaffee wie früher an der Aral-Tanke Habichtstraße. Schon über die Elbbrücken zu fahren, vom Hafen begrüßt zu werden, die Lichter zu sehen. Das ist einfach unglaublich schön.