Die Saison versprach große Freude, doch St. Pauli wurde von Stripperinnen, Wettskandal, fliegenden Schneebällen und Bierbechern getroffen.

Hamburg. Der 2. Mai 2010 war ein Feiertag. Nach dem 4:1-Sieg bei der SpVgg Greuther Fürth war dem FC St. Pauli der Triumph nur noch theoretisch zu nehmen gewesen, sechs Tage darauf die Rückkehr in die Bundesliga auch praktisch vollzogen. Das braun-weiße Glück war vollkommen, die Emotionen schwappten über. "Der Aufstieg zum 100. - mehr geht nicht", frohlockte Trainer Holger Stanislawski und begab sich mit seinen Spielern auf einen Feier-Marathon, den die Festivitäten im Rahmen des runden Geburtstags diktierten. Mehr ging nicht? Ging doch! Was der FC St. Pauli seitdem an ungewöhnlichen, überraschenden Ereignissen, Beschuldigungen und Kuriositäten erlebt, reicht bei anderen Klubs aus, um eine 100-jährige Vereins-Chronik zu füllen und torpedierte möglicherweise entscheidend die Saisonziele, die nach dem vorläufig letzten Akt am vergangenen Freitagabend in weite Ferne gerückt scheinen. Ein Rückblick:

Das neue Vereinsjahrhundert war gerade einmal vier Tage alt, als Präsident Corny Littmann mit seinem Rücktritt ein internes Machtgebaren um das vakante Amt auslöste. Nach einer Kampfabstimmung trat auch Vizepräsident Marcus Schulz zurück. Einen Monat später, die Mannschaft hatte ihre Saisonvorbereitung noch gar nicht begonnen, präsentierte der kommissarische Littmann-Nachfolger Stefan Orth in seiner ersten Amtshandlung voller Stolz den neuen Hauptsponsor, die ARD-Fernsehlotterie. Statt Lob und Anerkennung für den mit jährlich 3,5 Millionen Euro höchstdotierten Sponsoringvertrag der Vereinsgeschichte gab es vor allem aber weitreichende Diskussionen um die Zulässigkeit des Engagements. Finanzieren die Gebührenzahler indirekt einen Profiklub?

Einen Verein, der vor dem Saisonstart die Maxime ausgegeben hatte, die 34 Spieltage genießen zu wollen, jedes Spiel, jeden Wochentag im Kreis des elitären 18er-Zirkels als Festtag zu verstehen. Der Spaß verging Stanislawski erstmals im Trainingslager von Teistungen, als die Fahrräder für eine Trainingseinheit nicht wie gewünscht bereitstanden. Nach gutem Saisonstart tanzten die Spieler auf dem Platz, nach vier Niederlagen in Serie und einem 1:1 am 21. November gegen Wolfsburg nur noch die Stripperinnen von Susis Show Bar in der Loge am Millerntor.

Die Befürchtungen von Fans und Mitgliedern, die bei Bekanntwerden des Mietverhältnisses ein entsprechendes Rahmenprogramm prophezeit hatten, deren Bedenken aber vom Präsidium in einer Erklärung zerstreut wurden, bestätigten sich. Ein Wortbruch, der eine öffentliche Diskussion über das Verhalten der Entscheidungsträger und eine gesteigerte Kommerzialisierung anschob. Der Sport geriet zur Nebensache, wie auch der letzte Hinrundensieg gegen Kaiserslautern. Nach dem 1:0 traf ein St.-Pauli-Fan FCK-Spieler Christian Tiffert während eines TV-Interviews mit einem Schneeball im Gesicht.

Schnee und Eis ließen auch die Wintervorbereitung der Mannschaft zur Farce werden. Mit Fußball beschäftigten sich ohnehin nur noch die wenigsten unterm Totenkopf. Die Sozialromantiker bündelten mit ihrer pünktlich zu Weihnachten veröffentlichten Internet-Petition an den immer lauter werdenden Unmut an der Klub- und Geschäftsführung. Die Fanszene probte den Aufstand und drohte mit offenem Widerstand. Der Verein war - zumindest inhaltlich - in mindestens zwei Lager gespalten. Von Spaß war schon längst keine Rede mehr.

Ablenkung verschaffte im Januar das Bekenntnis René Schnitzlers. Der ehemalige Profi gab zu, in seiner Zeit beim FC Manipulationsabsprachen mit der Wettmafia getroffen, ohne die Spiele tatsächlich verschoben zu haben. Namen einiger angeblich mitbeteiligter Mannschaftskollegen nannte er den Wettpaten trotzdem. Als erste Reaktion gab es gleich den nächsten Vorwurf: Ex-Profi Andreas Biermann kritisierte St. Pauli hart, ihn und den ebenfalls spielsüchtigen Schnitzler bei Sponsorenterminen zum Pokern eingesetzt zu haben. Niemand sprach mehr vom spielstarken, sympathischen Aufsteiger. Auch wenn Biermann seine Aussagen kurz darauf relativierte und der Verein glaubhaft seine Verwicklung in den Wettskandal leugnete, war das Bild so beschädigt wie der Rasen im Stadion und auf dem Trainingsgelände. "Vielleicht sehen sich andere Klubs subjektiv in ähnlicher Lage. Aber was hier alles passiert, ist der pure Wahnsinn", so Sportchef Helmut Schulte, der nach dem emotionalen Hoch beim Sieg über den HSV mit ansehen musste, wie erst die nötigen Ergebnisse und dann auch die Spieler rar wurden. Das 0:2 am Freitag gegen Schalke bedeutete die sechste Niederlage in Folge, erstmals steht St. Pauli auf einem direkten Abstiegsplatz. Nach den Platzverweisen gegen Jan-Philipp Kalla und Fin Bartels fehlen Sonntag in Leverkusen voraussichtlich sieben Abwehrspieler. Gerade einmal 14 einsatzfähige Kicker, darunter U-23-Mann Petar Filipovic und der schon als Saisonausfall gestrichene Fabio Morena (Ermüdungsbruch), erlebten den Wochenauftakt auf dem Trainingsplatz.

Eine dramatische Tabellensituation, eine schockierende Personallage. Nur spricht darüber aktuell kaum jemand. Die Diskussionen beim FC St. Pauli drehen sich um Bierbecher, Spielabbrüche und Geisterspiele. In einer Saison, in der es galt, die Kräfte zu bündeln, alles dem großen Ziel unterzuordnen, werden die Kräfte auf anderen Gebieten verbraucht und der durchaus mögliche Klassenerhalt auf Nebenkriegsschauplätzen verspielt. Mehr geht nicht. Oder doch?