Eine Liebeserklärung an den FC St. Pauli von Corny Littmann - aus dem Abendblatt-Buch zum 100-jährigen Vereinsjubiläum, das morgen erscheint

Hamburg. 100 Jahre Klub, Kultur und liebenswertes Chaos werden im neuen Abendblatt-Buch "Forza St. Pauli" mit viel Liebe zum Detail beschrieben. Geschichten über spektakuläre Ereignisse, originale Zeitungsausschnitte und Interviews mit Zeitzeugen sorgen für einen abwechslungsreichen Mix. Selbstverständlich gibt es auch ein ausführliches Kapitel zur aktuellen Aufstiegssaison. Das Hamburger Abendblatt veröffentlicht an dieser Stelle vorab eine Episode aus dem Buch, das ab morgen im Handel erhältlich ist.

Es ist eine Ode an einen außergewöhnlichen Verein, geschrieben von einem treuen Anhänger, der sich als Präsident des FC St. Pauli große Verdienste erworben hat: Corny Littmann. Der Theaterintendant hat in den vergangenen gut sieben Jahren aus dem verschuldeten Regionalligisten einen wirtschaftlich ambitionierten Profiverein gemacht. Nach dem Bundesligaaufstieg ist er am 19. Mai 2010 auf dem Höhepunkt seines Schaffens als Präsident abgetreten. Er bleibt dem Verein aber "als Geschäftsführer der FC St. Pauli Service GmbH, Freund und Fan" erhalten. Im Abendblatt beschreibt Littmann, wie er einen typischen Spieltag am Millerntor erlebt und was die Faszination des Vereins, der auch nach 100 Jahren noch in keine Schublade passt, ausmacht.

"Noch eine Stunde, das Kribbeln beginnt. In 60 Minuten ist Anpfiff. Spätestens dann muss mir niemand mehr mit irgendeinem anderen Thema kommen, ich kann mich eh nicht mehr darauf konzentrieren - sprich: Alles andere als mein Verein ist mir ab dann auf gut Deutsch sch...egal. Da kann der Papst anrufen oder die Chinesische Mauer umfallen ...Von meinem Zuhause, dem Schmidt Theater, mache ich mich auf den Weg ins Stadion. Meist in Begleitung von mehreren Freunden, zu Fuß, is ja nicht weit. Die Detlev-Bremer runter zum Stadion. Was heißt hier zum Stadion - in die Festung, in die Burg oder ganz einfach: in unser Millerntor.

Auf dem kurzen Fußweg ersticken wir die aufkeimende Nervosität durch gepflegte Fachsimpelei: Haben wir hinten links heute ein Problem? Is Lechner wieder fit? Von der anderen Straßenseite ruft mir einer zu: Hey, Corny, heute drei Punkte? Da regt mich ja schon die Frage auf! An der Ampel Budapester Straße dann das Getümmel, ab hier gehört die Straße nur noch uns. Durch die Menge durch in die neue Südtribüne, aus jeder Ecke springt dir St. Pauli ins Auge, so soll das sein, nein, so muss das sein in unserem Stadion. Bis zu den Fliesen aufm Klo.

Kurzer Blick ins fast noch leere Stadion - und meine Gedanken gehen zurück zu den Anfängen meiner Liebe. Anfang der 80er-Jahre war das, sporadische Besuche im - damals noch - Wilhelm-Koch-Stadion, mehr ließen meine Theatertourneen nicht zu. Ich will nicht behaupten, dass es der einzige Grund war, auf St. Pauli sesshaft zu werden, aber ganz sicher war es auch einer! Spärlich gefüllte Ränge zu Oberligazeiten, 3000 Zuschauer waren schon gut. Viel Platz auf der Gegengerade, sodass mir keiner, mir kleinem Mann, die Sicht versperrte. Da tobten hautnah Schlachten um den Ball. Gut, es war nicht immer wirklich schöner Fußball, aber immer viel Kampf und Leidenschaft. Das Filigrane gab's woanders, und der erste Brasilianer sollte erst Jahre später kommen. Stattdessen erlebte ich frustrierende Aufstiegsrunden zur 2. Liga, erst 1984 ging's eine Liga höher. Und gleich wieder runter! Und gleich wieder rauf! Rauf und runter und immer treu! Auch das ist Liebe - St. Pauli, bis dass der Tod uns scheidet!

Bis dann 1988 Helmut Schulte kam. Bananen-Helmut. Der legendäre Aufstieg in die Bundesliga und die erfolgreichste Saison in der Vereinsgeschichte. Im selben Jahr eröffneten wir das Schmidt Theater, endlich war ich beständig auf St. Pauli. Und hab kein Spiel mehr verpasst. Nicht nur meine Liebe war entflammt, Totenkopf und Piratenflagge hielten Einzug in meine Wohnung wie die "Bravo-Poster" bei einem Teenie, und das Stadion war jetzt immer bis auf den letzten Platz gefüllt. Meine Begeisterung schwappte auf die Bühne über, ich spielte gemeinsam mit Marlene Jaschke und Lilo Wanders "Blaue Jungs" im Schmidt und sang allabendlich mein Fanlied: Vom Himmel tropft der Regen/das muss in Hamburg so sein/der Rasen ekelhaft rutschig/isn Vorteil für meinen Verein! Und dann der Refrain: Schwarz-braun ist die Haselnuss/braun-weiß ist mein Verein!! (Zugegeben, wenn man nur den Text liest, mag man sich wundern, aber die, die dabei waren, wissen, mit welch mitreißender Inbrunst ich dies tat - und Fangesänge haben noch niemals einen Lyrikerpreis erringen können!)

Emotionaler Höhepunkt war für mich aber der Chor-Auftritt der kompletten Mannschaft in unserer Fernsehsendung, der Schmidt-Mitternachtsshow. Mit "1:0 am Millerntor". Da war ich schon allen möglichen Show-Größen begegnet, von der Tuntensirene Marianne Rosenberg bis Hildchen Knef. Immer frech, immer mit großer Schnauze. Und erstarrte in Ehrfurcht vor meinen Idolen, die plötzlich zum Greifen nah (im übertragenen Sinne!) neben mir standen. Und sangen. Oder sowas Ähnliches - oder so ähnlich wie ich.

Das war nur noch durch unsere Bandenwerbung im Stadion zu toppen. Weniger Werbung als vielmehr Ausdruck meiner bedingungslosen Zuneigung. "Einer geht noch rein! Schmidt & Tivoli" stand drauf. Hat die damals stolze Summe von 20 000 DM pro Saison gekostet. Und mir - in einer Reihe mit anderen Werbenden - einen Platz im "Kuchenblock" beschert, inklusive Händedruck von Papa Weisener. Da blieb ich sitzen, mit dem Aufstieg in der Vereinshierarchie später einige Reihen höher, da, wo der Papa immer saß.

Heute sitze ich wie immer auf der "Süd" neben Helmut. Er notiert und analysiert, ich bin äußerlich zur Salzsäule erstarrt. Mit zwei Ausnahmen: Bei den "Hells Bells" bekomm ich regelmäßig feuchte Augen. Und wenn WIR ein Tor schießen, hält mich nix aufm Sitz. Ein Tor für uns am Millerntor steht einem Orgasmus in nichts nach. Und die entscheidenden sind sogar noch besser! Is schließlich ein kollektives Erlebnis.

Wer nach einem unserer zahllosen Siege - "Niemand siegt am Millerntor!" - am Abend durch St. Pauli zieht, der kann es förmlich an Haut und Haaren spüren: Hier ist das wahre Fußballglück zu Hause! Das muss wohl Liebe sein!"