Auch beim Heimspiel gegen Hannover 96 droht der HSV seinen wichtigsten Trumpf im Abstiegskampf zu verlieren: die Unterstützung der eigenen Fans

Hamburg. Die Nacht nach dem 3:0 in Paderborn war kurz. Sehr kurz. „Um vier Uhr morgens waren wir zu Hause“, erzählen Melly und Patrice. Eine Vollsperrung auf der A7, ein paar Bierstopps und ein Kumpel musste auch noch in Rahlstedt abgeliefert werden. Das normale Programm eben nach einem Auswärtsspiel, für das sich das Fan-Pärchen aus Winsen an der Luhe sogar zwei Ferientage nehmen musste. Und warum das alles? „Warum nicht? Als Fan muss man seine Mannschaft doch unterstützen“, sagt Patrice.

Muss man das? Genau über diese Frage herrscht seit Saisonbeginn Uneinigkeit im Lager der HSV-Anhänger.

Galt der Volkspark noch in der vergangenen Saison als einer der lautesten Stimmungstempel der Liga, der maßgeblichen Anteil am wahrscheinlich glücklichsten Klassenerhalt aller Zeiten hatte, ist davon nichts mehr übrig geblieben. Beim Rückrundenauftakt vor einer Woche (0:2) waren lediglich die fröhlich singenden Kölner zu hören, und auch vor dem Heimspiel gegen Hannover 96 an diesem Sonnabend (18.30 Uhr/Sky und Abendblatt-Liveticker) ist kaum mit Besserung zu rechnen. Der HSV lässt ein paar Pro-Olympia-Fähnchen auf der Westtribüne verteilen, angemeldete Aktionen von den eigenen Fans gibt es aber wieder keine. „Die Unterstützung in unserem Stadion ist erschreckend. Es ist mucksmäuschenstill“, sagt Patrice, der sich nichts sehnlicher wünscht als endlich wieder bessere Stimmung auf den Rängen.

Patrice, 43, und Melly, 28, sind echte Vollblutfans. Beide kommen in das Café am Gänsemarkt stilecht mit blau-weiß-schwarzem Schal und im blauen HSV-Kapuzenpullover mit dem Aufdruck „Nordtribüne“. Patrice, der sich selbst als „Kind der Westkurve“ bezeichnet, hatte 1984 seine erste Dauerkarte gekauft. Bernd Wehmeyer, Ditmar Jakobs, Manfred Kaltz, Felix Magath, Thomas von Heesen und natürlich der große Ernst Happel hießen seine Helden von damals. Melly war da noch gar nicht geboren. Sie ist seit sechs Jahren immer dabei. Als die Leiterin eines Sonnenstudios ihre erste Dauerkarte erwarb, stürmte der HSV auf Anhieb in ein Europapokalhalbfinale. In der nächsten Saison gleich noch mal – und irgendwann dachten viele, dass es immer so weiterging. Ging es aber nicht.

„Wer als Fan immer Erfolge feiern will, der muss zu Bayern München gehen. Aber in Wahrheit geht es doch um viel mehr als nur um Siege“, sagt Melly. Es gehe um die Unterstützung, um das Gemeinschaftsgefühl, um die bedingungslose Liebe zum eigenen Club. Doch genau von dieser Liebe wollen viele beim HSV nichts mehr wissen.

Der Anfang von allem war ein Ende. Als eine überwältigende Mehrheit der Mitglieder vor einem halben Jahr entschied, aus dem HSV e.V. eine HSVAG zu machen, fühlten sich besonders die Treuesten der Treuen von einem auf den anderen Tag nicht mehr dazugehörig. „Die CFHH wird in der kommenden Saison die ausgegliederte Profiabteilung nicht unterstützen“, hatte die Ultragruppierung Chosen Few (CFHH) wenige Wochen nach der Mitgliederversammlung in einem öffentlichen Brief mitgeteilt. Dabei galt die Verbundenheit der Ultras mit ihrem Club als unzerstörbar. Eigentlich. Die Strukturdebatte, die geplante Öffnung für Investoren, der Streit über einen Polizeieinsatz im voll besetzten Fanblock beim Heimspiel gegen Bayern München – irgendwann war es auch den selbst ernannten Stimmungsmachern aus Block 22C auf der Nordtribüne zu viel.

Es folgte, was folgen musste: Während sich der eine oder andere Verantwortliche insgeheim darüber freute, die aus ihrer Sicht unbequemen Anhänger losgeworden zu sein, sahen innerhalb des Fanlagers andere die Möglichkeit, die Lücke der Chosen Few auszufüllen. Es war, so viel steht nach einem halben Jahr fest, ein Irrglaube. Kleinere Ultragruppierungen wie North Crew waren von Anfang an chancenlos. Und auch die größte noch verbliebene Ultragemeinschaft Poptown (PT), die ein Gesprächsangebot mit dem Abendblatt ablehnte, konnte die heterogene Fanszene nicht vereinen. Das Stimmungstief im Norden, von wo aus die Fans ihren HSV anfeuern, war die logische Folge.

Die Auswirkungen sind bis heute unübersehbar und unüberhörbar. Choreos, kreative Fangesänge, besondere Aktionen? Fehlanzeige! „Natürlich haben auch wir die veränderte Stimmung auf den Rängen wahrgenommen“, sagt Joachim Ranau, leitender Fanbeauftragter des HSV. Mitte Januar baten er und seine Kollegen alle Dauerkarteninhaber von Block 22C, wo bis zur vergangenen Saison die Ultras der Chosen Few ihr Zuhause hatten, zu einem Gedankenaustausch ins Stadion. Auch Melly und Patrice waren mit ihrem gerade offiziell angemeldeten Fanclub Code Blue Hamburg vor Ort. „Wir wissen, dass wir Chosen Few nicht ersetzen können. Aber wir wollen zumindest versuchen, dass endlich wieder Stimmung im Stadion ist“, sagt Melly, die bereits beim vergangenen Heimspiel gegen Köln fleißig Flyer mit dem Aufruf um Unterstützung verteilt hat. Bislang haben sie und Patrice knapp 50 Mitstreiter gefunden – aber auch mindestens so viele Gegner gewonnen, die die beiden Fans im Internet und auch im Stadion anfeindeten.

„Der Rückzug der Chosen-Few-Ultras hatte mit Sicherheit gravierende Auswirkungen auf die Stimmungslage im Stadion“, sagt auch Tim Oliver Horn, seit Sommer neuer Chef der früher so mächtigen Fan-Organisation Supporters. Dabei sehe er die neue Lage auf der Tribüne keinesfalls nur schwarz, sagt Horn. „Teilweise ist die Stimmung sogar authentischer als früher. Die Tribüne reagiert nun auf das Geschehen auf dem Rasen. Spielt die Mannschaft gut, wird sie auch gut angefeuert. Spielt sie schlecht, ist die Stimmung auf den Rängen entsprechend schlecht.“ Das Problem: Wie schon in der vergangenen Saison spielt der HSV überwiegend schlecht, teilweise sehr schlecht. In neun Heimspielen durften sich die Anhänger über drei Siege freuen, insgesamt konnten im Volkspark nur sieben Heimtore bejubelt werden.

Trainer Joe Zinnbauer setzt trotzdem auf die Unterstützung der Anhänger. „Das Team wird nicht sicherer, wenn es nach misslungenen Aktionen ausgepfiffen wird. Wir müssen zusammenhalten“, sagt der Coach, der sehr ehrlich ankündigt, was die Zuschauer auch im Heimspiel an diesem Sonnabend zu erwarten haben: „Auch gegen Hannover wird es wahrscheinlich kein schönes Spiel werden. Wir wollen momentan aber keinen ansehnlichen Fußball bieten. Wir wollen Ergebnisfußball spielen. Es zählen nur die Punkte.“ Erst einmal in Fahrt, wird Zinnbauer richtig energisch: „Ich hoffe, dass die Fans uns das eine oder andere verzeihen und nicht schon nach 25 Minuten pfeifen. Wenn das Publikum schon nach wenigen Minuten umfällt, dann wird es für den Spieler auch nicht einfacher.“

Der bedingungslosen Unterstützung von Melly und Patrice darf sich Zinnbauer gewiss sein. „Seit Zinni da ist, hat sich doch schon eine Menge getan“, sagt Patrice, der auch keine Probleme damit hätte, wenn auch die Nacht zum Sonntag wieder kurz wird. Nicht wegen der langen Rückfahrt oder einer Autobahnsperrung – sondern wegen der Feier nach dem erhofften Heimsieg. „Man darf nie aufhören zu träumen“, sagt Patrice, „darum ist man doch Fan.“