Seit 2010 ist Heiko Westermann in Hamburg. Keiner lief seitdem so häufig für den HSV auf – und keiner wurde so häufig kritisiert. Warum eigentlich?

Hamburg. Am Morgen nach dem Spektakel gab es Redebedarf. Sportchef Oliver Kreuzer war der Erste, der am Sonnabend am Ort des Geschehens in die Fehleranalyse einstieg. „Normalerweise sagt man ja“, erklärte der Manager an der Arena, „dass der linke Verteidiger hinten bleiben soll, wenn der rechte Verteidiger vorne ist.“ Und weil Dennis Diekmeier, der rechte Verteidiger, in der Schlussphase des so wichtigen Spiels am Vorabend gegen Bayer Leverkusen nach vorne geeilt war, hätte sein Pendant auf der linken Seite, Heiko Westermann, absichern müssen. Kreuzers knallhartes Fazit: „In dem Fall hat der Heiko also alles falsch gemacht.“

Wirklich böse war der Vorstand Sport seinem Abwehrallrounder aber natürlich nicht – ganz im Gegenteil. Kreuzer und auch alle anderen HSV-Protagonisten waren sich selbst zwölf Stunden nach dem überlebenswichtigen 2:1-Sieg gegen Bayer bewusst, dass sie sich in erster Linie bei Westermann, der nach Flanke von Diekmeier kurz vor Schluss das Siegtor erzielt hatte, bedanken mussten. „Heiko ist ein sehr, sehr wichtiger Spieler für diese Mannschaft. Es ist schon so, dass er gelegentlich belächelt oder sehr kritisch gesehen wird, aber wir sind froh, dass wir ihn haben“, lobte Kreuzer. Und auch Hakan Calhanoglu, der den ersten Treffer des Abends erzielt hatte, formulierte es ähnlich: „Ich gönne Heiko Westermann diesen tollen Treffer. Er hat ein Riesenherz und ist ein Vorbild für uns alle.“

Vorbild Westermann – das hat der 30 Jahre alte Nationalspieler, der noch immer auf eine Nominierung für die WM hofft, so in dieser Form noch nicht so häufig gehört. Besonders bei den eigenen Anhängern genießt der Abwehrmann einen zweifelhaften Ruf. Einsatz und Kampfeswillen werden bedingt anerkannt, mutmaßlich spielerische Defizite sorgen aber für einen negativen Gesamteindruck. Bei einem Testspiel im eigenen Stadion gegen den FC Valencia im August 2011 wurde Westermann sogar von den eigenen Anhängern ausgepfiffen. „Heiko hat bei unseren Fans ein schwieriges Standing“, gibt Supporterschef Christian Bieberstein zu, der dafür aber keine überzeugende Erklärung hat: „Ich verstehe das selbst nicht so richtig. Heiko ist vielleicht kein Ballkünstler, aber er kann doch eine Mannschaft kämpferisch mitreißen.“

126-mal hat Westermann genau das seit seinem Wechsel nach Hamburg vor knapp vier Jahren gemacht: Er ist vorangegangen. Kein HSV-Profi kam seitdem auf mehr Einsätze. Lief es gut, wurde der Unverwüstliche beklatscht, lief es weniger gut, wurde er beschimpft. Geliebt wurde Westermann nie. „Man hat den Eindruck, dass die Leute bei all den Rückschlägen einfach einen Sündenbock brauchten“, sagt Bieberstein.

Doch der entscheidende Treffer zum 2:1-Sieg sechs Minuten vor Schluss machte aus dem einstigen Sündenbock plötzlich einen Liebling der Nation. „Heiko Westermann, du bist der beste Mann“, wurde in der Nordkurve, dort, wo die Treusten der Treuen stehen, noch Minuten nach dem Abpfiff gesungen. Und auch über die sozialen Netzwerke schwappte eine Welle der Begeisterung. Unter #HW4, den Initialen Heiko Westermanns in Kombination mit seiner Rückennummer, wurde ein regelrechter Lovestorm verbreitet. „CR7? HW4!“, zwitscherte da ein Twitterer in Anlehnung an Madrids Cristiano Ronaldo und zeigte eine Fotomontage mit Westermann als Weltspieler des Jahres und dem Ballon d’Or (siehe Foto). „#HW4 bei der WM unverzichtbar! Herr Löw, haben Sie das gesehen?“, fragte eine andere Anhängerin. Und ein Hamburger Sportjournalist schrieb gar: „Heiko Westermann, ich liebe dich!“

Als eher introvertierter Franke weiß der plötzlich Geliebte die Schwärmereien richtig einzuschätzen. Westermann genießt den Augenblick, weiß aber, dass schon morgen wieder ein Schuldiger gesucht werden könnte. „Die Erleichterung war riesig, nicht nur bei mir, sondern auch bei allen anderen“, sagte der frühere Kapitän, der den freien Sonntag zum ausgiebigen Familienspaziergang nutzte. Dass aber auch er sich geschmeichelt fühlte, wollte Westermann gar nicht erst verhehlen: „Das war einer der emotionalsten Momente, nein, es war wohl sogar mein emotionalster Moment bisher in Hamburg.“

Westermanns Zukunft in Hamburg gilt trotz guter Leistung als ungewiss

Wie viele emotionale Momente noch dazukommen, ist allerdings fraglich. Trotz seines starken Auftritts und Tors gegen Bayer ist der bis 2015 unter Vertrag stehende Westermann nicht nur bei den Fans, sondern auch bei den Verantwortlichen umstritten. Grund dafür ist weniger sein fußballerisches Können oder Nichtkönnen als vielmehr sein überdurchschnittlich gutes Gehalt. Der HSV, das ist kein Geheimnis, muss sparen. Und da mit Jonathan Tah, Michael Mancienne, Lasse Sobiech, dem derzeit verletzten Slobodan Rajkovic und Johan Djourou, dessen mit rund 2,4 Millionen Euro dotierter Vertrag (inklusive Prämien) sich in der vergangenen Woche bis 2016 verlängerte, noch fünf weitere Innenverteidiger für die kommende Saison unter Vertrag stehen, gilt Westermanns Zukunft beim HSV zumindest als ungewiss.

In Hamburg weiß man offenbar recht gut, was Westermann nicht kann. Doch weiß man eigentlich auch, was er kann? Nur den wenigsten ist beispielsweise bewusst, dass der Allrounder, der zentral, links und rechts spielen kann, mit 463 abgefangenen Pässen in der vergangenen Saison in dieser Kategorie vor Wolfsburgs Naldo (412) die Nummer eins der Liga war. Weitere Pluspunkte: Trotz seiner Knieverletzung, die Westermann in dieser Saison vier Spiele gekostet hat, darf sich der Aushilfslinksverteidiger wohl als schmerzunempfindlichster Spieler der Liga fühlen. Auch gegen Leverkusen plagte sich der Unkaputtbare mit Adduktoren- und Knieproblemen, biss aber bis zum Ende auf die Zähne. Und im Gegensatz zu Rafael van der Vaart, der Westermann unter dem ehemaligen Trainer Thorsten Fink als Kapitän beerbte, gibt es auch keine Zweifel an seinen Führungsqualitäten. „Für den Heiko freut es mich besonders“, lobte Trainer Mirko Slomka unmittelbar nach dem 2:1-Sieg, „an seiner Person war ja immer wieder Kritik aufgekommen.“

Er selbst wolle sich an dieser Kritik nicht beteiligen. Und selbst über Westermanns taktischen Fehler, so kurz vor Schluss einfach nach vorne gestürmt zu sein, wollte Slomka mal drüber hinweg sehen: „Jeder macht ja mal Fehler ...“