Im 100. Nordduell des HSV gegen Werder geht es um mehr als nur drei Punkte

Hamburg. Als Mirko Slomka am frühen Dienstagmorgen mit dem Auto am Stadion vorfuhr, ahnte der neue HSV-Trainer bereits, dass diese Woche eine besondere ist. Überrascht registrierte der neue Coach, dass die gesamte Ost- und Nordseite der Arena mit insgesamt 80 blau-weiß-schwarzen HSV-Fahnen beflaggt war, die aus allen Büros der Geschäftsstelle aus dem Fenstern hingen. „Irgendwie sind wir ja alle ein Team. Das ist schon eine tolle Idee der Kollegen“, zeigte sich Slomka von der Kampagne „Der HSV zeigt Flagge“ begeistert, die als Solidaritätsaktion für die Profis in der Woche des 100. Nordderbys gegen Werder gedacht ist.

Der frühere Trainer von Hannover 96 ist zwar erst seit einer Woche in Hamburg unter Vertrag, hat die außergewöhnliche Brisanz des Nordderbys aber schon längst erkannt. „Man spürt, dass es ein besonderes Duell ist“, sagt Slomka, den man als ehemaligen Hannover-, Schalke- und TeBe-Berlin-Trainer mit Fug und Recht als Derby-Experten bezeichnen kann. Während er in der Hauptstadt mit Tennis Borussia gegen Union nur ein „kleines Berlin-Derby“ in der Regionalliga genießen durfte, saß er als Hannover-Coach bei insgesamt neun Niedersachsen-Duellen gegen Wolfsburg und Braunschweig auf der Bank. Die „Mutter aller Derbys“ zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund erlebte er immerhin fünfmal mit (siehe Tabelle). „Derbys haben immer eine besondere Atmosphäre“, sagt Slomka, als er es sich nach dem Vormittagstraining in der BoConcept-Lounge mit direkten Blick auf den Übungsplatz bequem macht.

Anders als Werders Robin Dutt („Ich bin froh, dass ich beim richtigen Nord-Verein angestellt bin“) betont Slomka aber, dass er aus Erfahrung „lieber nicht zu viele scharfe Sätze“ vor einem Prestigeduell benutzt. Denn die Erfahrung, die er am 12. Mai 2007 machen durfte, wünsche man seinem schlimmsten Feind nicht. „Das entscheidende Derby um eine Meisterschaft zu verlieren tut schon weh“, sagt der frühere Schalker, der vor knapp sieben Jahren „nur“ noch das Ruhrpott-Duell gegen Erzfeind Borussia Dortmund gewinnen musste, um den ersten Bundesligatitel überhaupt nach Gelsenkirchen zu holen. Doch das Ende ist bekannt: Dortmund gewann 2:0, Gerald Asamoah musste nicht wie zuvor angekündigt über die Autobahn nach Gelsenkirchen laufen und Schalke war wieder nur „Meister der Herzen“.

In Bremen geht es am kommenden Sonnabend (15.30 Uhr/Sky und Liveticker bei abendblatt.de) zwar keinesfalls um die Meisterschaft, dafür aber um das nackte Überleben. Denn der Verlierer des „wahren Nordderbys“, wie es Slomka nennt, droht bis zum Saisonende ganz tief im Abstiegskampf zu verharren. „Uns ist bewusst, dass es kein gewöhnliches Spiel ist“, sagt der Fußballlehrer, der sich vier Tage vor dem Nordduell noch nicht zu sehr in die Karten schauen lassen will. Klar ist, dass es nach dem begeisternden 3:0-Sieg gegen Dortmund eigentlich keinen Grund für Änderungen gibt. Genauso klar ist aber auch, dass er den genesenen Kapitän Rafael van der Vaart kaum auf der Bank lassen kann. „Rafa ist auf dem Weg zurück in die Mannschaft“, sagt Slomka, der dem Niederländer aber keinen Persilschein ausstellen will. Nach dem kräftezehrenden Vormittagstraining, in dem van der Vaart läuferisch an seine Grenzen gehen musste, ordnete Slomka beim Nachmittagstraining eine Zwangspause für den 31-Jährigen an: „Wir müssen ihn erst mal an diese Belastung gewöhnen, die vielleicht ein bisschen mehr ist, als sich das Rafa möglicherweise erhofft hat.“

Während Slomka also Aufstellung und auch Taktik („es kann da Änderungen geben“) für das das Prestigeduell bewusst offen lässt, sind die Gedankenspiele seines Bremer Pendants Dutt zwangsläufig durchschaubar. Nach den Ausfällen von Aleksandar Ignjovski (Bluterguss im Sprunggelenk), Luca Caldirola und Felix Kroos (beide gesperrt) stellt sich die Mannschaft fast schon von alleine auf, was Werders Mittelfeldkämpfer Cedrick Makiadi aber keineswegs verzweifeln lässt. „Wir werden nicht zulassen, dass die Hamburger hier etwas wegholen. Wir werden alles reinwerfen“, sagt Makiadi. Gar von einer „Verpflichtung“, das Derby zu gewinnen, spricht Trainer Dutt.

Der frühere DFB-Sportdirektor hat den Hamburger Aufschwung nach dem Trainerwechsel durchaus registriert. Dass es bei einer Niederlage gegen den HSV auch für ihn ungemütlich werden könnte, ist ihm genauso klar wie die Tatsache, dass man sich in Bremen und Hamburg mit einem Derbysieg zwei Wochen Ruhe erkaufen kann. „Ich als Neu-Bremer habe spätestens nach dem Hinspiel gemerkt, welche Bedeutung das Derby für die Fans, den Verein und das Umfeld hat und welche Emotionen dieses Duell freisetzen kann“, sagt Dutt, dessen Bremer das Hinspiel in Hamburg mit 2:0 für sich entscheiden konnten. Das 1:4 in Gladbach und das 0:3 gegen Frankfurt aus den beiden Spielen zuvor waren nach den 90 Minuten schlagartig vergessen. Doch ein einziger Derbysieg in der Saison reicht nicht, wenn man ansonsten kaum Erfolg hat. Das ahnt Dutt, der sich da keine Illusionen macht: „Dieses Derby ist das wichtigste Spiel.“

Und vor einem Derby, das wissen neben den Trainern auch die Spieler auf beiden Seiten, die sich nicht an die berühmt-berüchtigten Werder-Wochen im Frühling 2009 erinnern können, sollte man Respekt haben. Werder gegen den HSV, das sei ein echter Clásico, sagt Bremens argentinischer Stürmer Franco Di Santo. Clásico, so nennen sie im spanischen Sprachraum das „Spiel der Spiele“. Und das Spiel der Spiele in der Bundesliga steigt an diesem Sonnabendnachmittag im Weserstadion: 15.30 Uhr, das Nordderby. Zum 100. Mal. Es ist angerichtet.