HSV-Innenverteidiger Johan Djourou spricht im Abendblatt über seine komplizierten Familienverhältnisse, sein Leben als Teenager in London und über Lampedusa.

Hamburg. Zum Gespräch mit dem Abendblatt kommt Johan Djourou mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wie geht’s“, fragt der Schweizer, der möglicherweise die interessanteste Familiengeschichte der ganzen Bundesliga zu bieten hat. Darüber ist zu reden.

Hamburger Abendblatt: Herr Djourou, stimmt es, dass Ihr neuer Spitzname in der Kabine Mr. 100 Prozent ist?

Johan Djourou: Ich habe davon noch nichts gehört, wie kommen Sie darauf?

Im Spiel gegen den VfB Stuttgart haben Sie den fabelhaften Wert von 100 Prozent gewonnener Zweikämpfe erzielt. Selbst bei Ihrem Eigentor ließen Sie Gegenspieler Ibisevic nicht den Vortritt ...

Djourou: (lacht) Nee, nee, auch diesen Zweikampf wollte ich unbedingt gewinnen. Aber im Ernst: 100 Prozent ist natürlich ein toller Wert, aber wenn man 3:3 spielt, kann man sich als Abwehrspieler nur begrenzt freuen. Was die Statistik betrifft: In meiner Zeit bei Hannover 96 hat Mirko Slomka mal für jede Position ein Poster in die Kabine gehängt, auf dem alle relevanten Parameter für eine gute Leistung aufgelistet waren. Also in meinem Fall als Innenverteidiger: Zweikampfstatistik, Passquote, Ballkontakt und so weiter. Daneben standen die besten fünf Verteidiger der Liga. Seitdem versuche ich, möglichst in allen Bereichen perfekt zu sein. Das gelingt natürlich nicht immer, aber manchmal kommt man schon nah an die Top fünf der Liga ran.

Mal ganz abgesehen von irgendwelchen Statistiken: Wie fühlt sich ein Schweizer mit ivorischen Wurzeln, der aus England kommt, in Hamburg?

Djourou: Gut. Das wird Sie vielleicht überraschen, aber vieles ist für mich hier wie in London, nur eben kleiner. Hamburg ist auch eine sehr internationale Stadt, was mir gut gefällt.

Wo ist für Sie eigentlich Heimat?

Djourou: Das ist eine schwere Frage. Ich bin Schweizer, aber natürlich habe ich auch mein Geburtsland, die Elfenbeinküste, in meinem Herzen. Vielleicht ist aber mittlerweile auch London meine Heimat, weil ich dort sehr lange gelebt habe. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allem.

Wahrscheinlich haben Sie die kompliziertesten Familienverhältnisse der Bundesliga. Verraten Sie uns, warum Ihre Patchworkfamilie trotzdem funktioniert.

Djourou: Wahrscheinlich ist meine Adoptivmutter das ganze Geheimnis. Ihr bin ich unendlich dankbar. Ich versuche das mal zu erklären: Also, mein Vater und meine biologische Mutter aus der Elfenbeinküste hatten, sagen wir mal, einen Unfall, und ich war das Resultat. Natürlich war seine Frau Daniele wenig erfreut, hat sich dann aber trotzdem dazu entschlossen, mich mit 17 Monaten zu adoptieren. Für mich war das ein großer Glücksfall, weil es in Europa viel einfacher als in Afrika ist. Aber Daniele hat mir immer erklärt, dass ich auch in Afrika eine zweite Mutter, Angeline, habe. Und als ich 15 Jahre alt war, habe ich sie auch kennengelernt.

Wie war das?

Djourou: Es war ein unglaubliches Gefühl, schön und merkwürdig zugleich. Wir haben uns in Abidjan am Flughafen getroffen, dort habe ich dann auch meine ganze zweite Familie kennengelernt. Insgesamt habe ich fünf Geschwister oder Halbgeschwister, mein kleiner Bruder Ladislas ist auch gerade in Hamburg zu Besuch.

Haben Sie immer noch Kontakt zu Ihrer leiblichen Mutter?

Djourou: Klar, ich fliege mindestens alle zwei Jahre in die Elfenbeinküste. Mein Vater ist mittlerweile mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen, mit Monique, aber auch mit ihr verstehe ich mich gut. Natürlich war nicht immer alles einfach, aber meine gesamte Familie ist mir wichtig. Ich bin jetzt ja auch selbst verheiratet und habe zwei Kinder.

Sie sagen ja selbst, dass Ihnen die Familie sehr wichtig ist. Haben Sie sich als 15-Jähriger im Arsenal-Internat in London gar nicht einsam gefühlt?

Djourou: Nein, ich war ja bereits mit 13 Jahren in der Schweiz in einem Fußballinternat, da konnte ich mich schon ein bisschen daran gewöhnen. Und ich hatte immer diesen Traum von einer Profikarriere im Hinterkopf, dem habe ich alles untergeordnet.

Was wäre gewesen, wenn Sie es nicht geschafft hätten?

Djourou: Das hat mich mein Vater auch immer wieder gefragt, aber Eltern müssen das ja auch. Für mich gab es aber nie einen Plan B. Ich habe zwar meinen Schulabschluss in England gemacht, aber ich war mir sicher, dass ich Fußballprofi werden wollte.

Genau wie Jonathan Tah, der im HSV-Internat wohnt, haben auch Sie Ihr Debüt in England mit 17 Jahren gefeiert. Besteht nicht die Gefahr, in zu jungen Jahren verheizt zu werden?

Djourou: Das sehe ich überhaupt nicht so. Ich finde es gut, dass junge Spieler die Möglichkeit bekommen, sich auszuzeichnen und auch mal Fehler zu machen. Jonathan ist zwar erst 17, aber er ist schon ein richtiger Mann. Genau wie ich früher ist er sehr fokussiert, er wird seinen Weg machen. Dabei ist es gar nicht schwierig, bereits mit 17 Jahren mit den Profis zu trainieren. Viel schwieriger ist es, dann nicht zufrieden zu sein, sondern weiter hart an sich zu arbeiten und noch besser zu werden. Aber Jonathan wird genau das schaffen.

Haben Sie sich mal ausgemalt, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn Ihr Vater Sie nicht als Kleinkind mit in die Schweiz genommen hätte?

Djourou: Ich hätte es sicherlich sehr viel härter gehabt. Das Leben in Afrika ist oft sehr schwierig. Das sieht man doch auch an der ganzen Lampedusa-Diskussion. Viele Afrikaner denken, dass ihre einzige Chance in Europa liegt. Aber das ist dann leider oft ein Trugschluss.

Was meinen Sie?

Djourou: Es fängt schon bei den notwenigen Amtsgängen an. Ohne Sprachkenntnisse sind diese bürokratischen Dinge unüberwindbare Hürden. Man muss deswegen direkt vor Ort anfangen, den Menschen zu helfen. Darum habe ich eine Stiftung für Kinder im Senegal gegründet. Denn ich bin mir bewusst, dass ich viel Glück im Leben hatte.