Das Abwehrtalent des HSV hat seinen Durchbruch viel früher geschafft, als es selbst erwartet hatte. Trainer van Marwijk kommt es vor, als würde Tah „schon fünf Jahre in der Bundesliga spielen“.

Hamburg. Nein, dass es so schnell gehen würde, damit hatte Jonathan Tah selbst wirklich nicht gerechnet. Er wollte doch eigentlich nur lernen, Schritt für Schritt an die Bundesliga herankommen. Und nun das. „Ab und zu denke ich schon darüber nach“, sagt er, „ich war schon überrascht, aber ich freue mich natürlich darüber.“

Noch kann er nicht selbst mit dem Auto zum Training fahren, den Bundestag durfte er nicht mitwählen. Und unbegrenzt über sein Profigehalt verfügen, das darf er auch noch nicht. Aber in der HSV-Abwehr, da spielt er schon eine ziemlich entscheidende Rolle. Jonathan Tah ist 17 Jahre alt und ist im Zivilleben noch nicht voll geschäftsfähig. Ganz anders als auf dem Fußballfeld. Nach vier Pflichtspielen in der Startelf ist er momentan gesetzt. Er hat die Erstliga-Reife im Expresstempo nachgewiesen. „Als würde er schon fünf Jahre in der Bundesliga spielen“, lobte Trainer Bert van Marwijk gerade.

Dass sie da beim HSV ein Ausnahmetalent haben – 1,92 Meter, 90 Kilo, als sei er in Zaubertrank gefallen – das wussten sie ja. Tah ist Kapitän der deutschen U18-Auswahl, war im Frühjahr eine der Hauptfiguren einer Doku des Pay-TV-Senders Sky über „vier Jungs auf dem Weg in die Bundesliga“, trainiert seit Februar bei den Profis mit.

In den vergangenen zwei Wochen konnte er auch in Vollzeit mitüben. Normalerweise sitzt er vormittags in der Schule und lernt für das Abitur. Im Sommer ist auch die schulische Reifeprüfung geschafft. „Das Verhältnis zu meinen Mitschülern ist ganz normal kumpelhaft“, erzählt er. Die Autogrammwünsche haben zugenommen, Liebesbriefe aber seien nicht dabei. Sagt er. Vorstellen kann man sich das kaum. Und auf der Straße? „Ja, werde ich auch häufiger angesprochen aber, nein, das nervt nicht.“

Es sind ja oft auch diese Zufallsgeschichten, die Karrieren beeinflussen. So oder so. Bei Tah war es die Verletzung von Dennis Diekmeier und die Beurlaubung von Trainer Thorsten Fink. Heiko Westermann musste rechts verteidigen, und Interimscoach Rodolfo Cardoso riskierte den Einsatz des Youngsters in der Innenverteidigung im Spiel gegen Werder Bremen und gegen Greuther Fürth. Diese Partie sah van Marwijk im TV: „Sein Laufweg hinter René Adler, wodurch er ein Gegentor auf der Linie verhindert hat, hat gezeigt, dass er ein guter Verteidiger ist“, sagt der Niederländer – und ließ Tah im Team. „Eine große Zukunft“ habe Tah vor sich, meint der HSV-Trainer: „Es ist faszinierend, dass er im Aufbau aus der Abwehr so gute Pässe spielen kann.“ Auch Sportchef Oliver Kreuzer zeigte sich schon begeistert: „Er ist vom Kopf her weiter als viele Altersgenossen. Entscheidend ist jedoch die Handlungsschnelligkeit.“ Vor allzu großen Erwartungen will der Verein sein Juwel jedoch schützen. Fragen, die auch nur im Ansatz in Richtung internationale Einsätze gehen könnten, ob Elfenbeinküste oder Deutschland zum Beispiel, hört man nicht so gerne.

Drei Geschwister fiebern mit

Bei den Spielen sitzen seine Eltern und drei Geschwister im Stadion und fiebern mit. Er ist Hamburger, kam mit 14 Jahren von Altona 93 zum HSV und wohnt im Internat draußen in Norderstedt. Das Umfeld muss stimmen, Freunde, Familie. Das war ein Pluspunkt für den Verein bei den Vertragsverhandlungen im Frühjahr. Bis 2016 ist er nun gebunden. Im HSV-Team hat er ein besonderes Verhältnis zu Hakan Calhanoglu: „Wir sind ja fast ein Alter. Hakan ist fast wie ein Bruder für mich.“ Für den Freistoßkünstler hat er einen Motivationssong aufgenommen, der auf seiner Facebook-Fanseite zu bewundern ist. Man ahnt, dass es da auch den ganz privaten Jonathan Tah gibt, der viel lockerer drauf ist, wenn nicht gerade die Medien ihre Kameras laufen lassen und die Stifte zücken.

„Ich muss im Training immer weiter Gas geben und mich anbieten“, erklärte Tah am Donnerstag. Der große Junge wirkt sachlich, ruhig, abgeklärt. „Ich bin keiner, der abhebt“, sagt er von sich selbst. Schüchtern? Nein. Cool? Ja vielleicht, aber ohne Arroganz. „Ich bin natürlich nervös vor einem Spiel“, sagt er, „aber ich versuche, Ruhe auszustrahlen. Das hilft ja auch der Mannschaft.“

Und die hilft ihm. „Die älteren Spieler haben mir gute Tipps gegeben. Sie haben Erfahrung, daraus kann ich lernen“, sagt Tah. Das ist das Mantra: Lernen, weiterentwickeln, Gas geben. „Kopfball und Zweikampf sind ganz gut, aber ich muss an meiner Technik und dem Passspiel noch arbeiten.“ Das wird er tun, ganz sicher. „Ja, ein bisschen lebe ich einen Traum“, sagt Jonathan Tah, „aber ich fange doch grade erst an.“