In Hamburg wurde das Talent des Reinbekers verkannt, heute ist er deutscher Nationalspieler. Dennoch ist die Zahl der Talente gestiegen

Wenn heute Abend in Köln kurz vor dem Anpfiff gegen Irland die Nationalhymne für die deutsche Nationalmannschaft ertönt, wird die TV-Kamera wie immer langsam von Spieler zu Spieler wandern, die mal mehr, mal weniger ihre Lippen bewegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dann auch der Reinbeker Max Kruse großformatig zu sehen. Und womöglich werden dem Torjäger morgen die Schlagzeilen gehören, sollte ihm der entscheidende Treffer zur Teilnahmeberechtigung an der WM 2014 in Brasilien glücken.

Die Freude der Hamburger Fußballfans dürfte bei Kruses Anblick indes geteilt ausfallen. Die Anhänger des FC St. Pauli können sich brüsten, dass sich Kruse am Millerntor so gut entwickelte, dass ihn Freiburg 2012 für 750.000 Euro Ablöse verpflichtete. Im Breisgau gelang ihm ein weiterer Leistungsschub, weshalb sich Borussia Mönchengladbach seine Dienste für 2,5 Millionen Euro Ablöse sicherte. Jetzt, als deutscher Nationalspieler, wird sein Marktwert auf sieben Millionen Euro taxiert. Ein traumhafter Aufstieg.

Für die HSV-Fans ist der Name Kruse dagegen eher mit Schmerzen verbunden, schließlich verkannten die Späher des Clubs das große Potenzial des heute 25-Jährigen, der früher sogar in HSV-Bettwäsche schlief. Stattdessen holte der damalige Manager Frank Arnesen mit Artjoms Rudnevs lieber einen Letten aus der polnischen Liga, der die stolze Ablöse von 3,5 Millionen Euro kostete und dessen einzige Währung Tore sind. Als Kombinationsfußballer ist „Rudi“ wenig bis gar nicht zu gebrauchen. Was sagt uns das alles? Vielleicht, dass sich der HSV besser auch damit beschäftigen sollte, sein Geld künftig sinnvoller einzusetzen anstatt nur darüber zu streiten, wie man noch mehr Millionen generieren kann, die ohne ein kluges, geschickteres Management auch nur wieder versickern könnten.

Denn Kruse ist kein Einzelfall. Die Liste jener Talente, die in Hamburg vorspielten, aber in anderen Clubs zu Bundesligaspielern wurden, lässt sich beliebig erweitern, siehe Daniel Ginczek, Carlos Zambrano oder Bastian Oczipka (alle St. Pauli). Auch einige Eigengewächse wie Änis Ben-Hatira (Hertha), Maxim Choupo-Moting (Mainz) oder aktuell Sidney Sam (Leverkusen), der in Leverkusen sogar zum Nationalspieler reifte, machten woanders Karriere. Noch immer schmerzhaft ist der Abgang von Uwe Seelers Enkel Levin Öztunali, der es sicher zum gestandenen Profi schaffen wird. Mindestens.

Es ist bedauerlich, dass es dem HSV auch heute nicht gelingt, sich die besten Nachwuchsleute aus der Region zu sichern. Den HSV aber deshalb als talentfreie Zone zu bezeichnen, wäre auch ein kapitaler Fehler. Beim Spiel gegen Bremen standen mit Maximilian Beister, Jonathan Tah und Zhi Gin Lam drei Nachwuchsspieler auf dem Rasen, im Kader tummeln sich mit Matti Steinmann und Florian Stritzel weitere Youngster aus der eigenen Talentschmiede. Solch eine Anhäufung wäre vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen. Alleine Heung Min Son spielte mit seinen zehn Millionen Euro Ablöse, die Leverkusen zahlte, die Kosten der Nachwuchsabteilung für knapp zwei Jahre wieder ein.

Aber was kommt hinter diesen hoffnungsvollen Namen? Auch im Juniorenbereich finden sich durchaus einige Nationalspieler wie Finn Porath (U17) oder Torwart Alexander Brunst (U19), dennoch tut sich eine Lücke auf bei der U21 und der U20, also beim Übergang von der Jugend zu den Erwachsenen. Kein HSVer steht in den Aufgeboten für die anstehenden deutschen Spiele. Eindeutig eine negative Folge der wenig kontinuierlichen Arbeit beim Nachwuchs in den vergangenen Jahren.

Traurig stimmt die Tatsache, dass sich der HSV noch immer in einer Übergangsphase befindet. So steht bis heute Lee Congerton unter Vertrag, den Arnesen mitbrachte und zum technischen Direktor machte. 500.000 Euro wird der Engländer, dessen Fähigkeiten als Fußballfachmann und Scout mehrfach gerühmt wurden, bis Juni 2014 verdienen. Doch seine Dienste werden nicht genutzt – Congerton ist wie auch Scout Steve Houston (100.000 Euro Gehalt) derzeit ohne Aufgabe. Warum eigentlich? Wer finanziell so angeschlagen ist, kann es sich nicht leisten, noch mehr Kruses zu übersehen.