Serie: Marcell Jansen erinnert sich an die bitteren Wochen gegen den Nordrivalen Werder Bremen im Jahr 2009, die dem Verein ein Trauma bescherten.

Hamburg. Augenblicke, die eine Karriere prägen. Orte, die man nicht vergisst. Das Abendblatt bat 15 Sportstars, an Hamburger Stätten großer Momente zurückzukehren und sich dort an ihre Vergangenheit zu erinnern. Die Serienteile lesen Sie bis Anfang September regelmäßig an dieser Stelle.

Er will nichts mehr dem Zufall überlassen. Jeder Halm des Stadionrasens wird gestutzt, auf exakt 25 Millimeter geschnitten. Sandige Flächen werden ausgebessert. Man könnte meinen, ein riesiges Golf-Grün vorzufinden. „Celle, gib’ dir mal richtig Mühe“, schreit HSV-Profi Marcell Jansen dem HSV-Greenkeeper Christoph Strachwitz im Scherz zu. Dieser hatte Jansen fälschlicherweise „Celle“ statt „Cello“ gerufen – seither heißt der Mann bei Jansen so. Und dieser Celle versetzt mit seinen drei Mitarbeitern und seinem Rasenmäher das Stadiongrün in einen nahezu perfekten Zustand. Sehr zur Freude von Jansen. „Mit einem perfekten Rasen wie heute wäre das wahrscheinlich nicht passiert“, sagt der Linksverteidiger. „Obwohl“, räumt er selbst umgehend ein, „das war wohl nicht zu verhindern. Einfach bitter.“

Gemeint ist der Moment, an den sich auch in vielen Jahren noch alle Fußballfans von Hamburg bis Bremen erinnern werden. Der Moment mit der Papierkugel. Es war die 83. Minute im Uefa-Cup-Halbfinalrückspiel des HSV gegen Werder Bremen am 7. Mai 2009, als die anschließend in Internetforen als „Papierkugel Gottes“ verspottete Fan-Choreografie entscheidend ins Spiel eingriff. Hamburgs Verteidiger Michael Gravgaard wollte unmittelbar vor der eigenen Torauslinie vor der Südtribüne einen Rückpass in Richtung seines Torhüters Frank Rost spielen. Doch Sekundenbruchteile, bevor der Däne den Ball spielte, kam ihm das unscheinbare Hindernis in die Quere, der Ball hüpfte leicht in die Luft. Gravgaard konnte den Rückpass nicht mehr kontrollieren, seine Bewegung nicht unterbrechen. Er traf den Ball mit dem Schienbein und verursachte einen Eckstoß für die Gäste aus Bremen. Der Verteidiger ärgerte sich kurz, lief zur Mitte und musste mit ansehen, wie Bremens Diego den Eckball in die Mitte zog und am kurzen Pfosten Hugo Almeida den Ball mit dem Kopf in Richtung des zweiten Pfostens verlängerte. Rost konnte zwar zunächst parieren. Der anschließende Befreiungsschlag Piotr Trochowskis aber misslang, so dass Werder-Kapitän Frank Baumann per Kopf für das wichtige 3:1 sorgen konnte.

Es war die Entscheidung des Spiels und wohl einer der bittersten HSV-Momente der vergangenen 20 Jahre. Auch für Jansen. Zumal es der erste Gegentreffer nach einer Ecke für den HSV im 49. Pflichtspiel der Saison 2008/09 war. Ausgelöst von einer Papierkugel.

Dabei war die Kugel ein Teil einer gut gemeinten und optisch ansprechenden Fan-Choreografie gewesen. Geplant wurde diese durch die „Chosen Few“, die rund 45.000 sogenannte Klatsch-Pappen vor dem Anpfiff an die HSV-Anhänger verteilt hatten. „Es war ein Fest“, erinnert sich Jansen, „das Stadion war ausverkauft, es war ein Abendspiel unter Flutlicht – es stimmte alles. Vor allem aber waren wir alle nach dem 1:0 im Hinspiel in Bremen optimistisch. Die Papierkugel setzte dem Ganzen dann aber die Krone auf.“

Dabei hatte Jansen im Spiel davon nicht viel mitbekommen. Zunächst zumindest. „Ich weiß nur, dass ich zu sehr mit Adrenalin geladen war. Wir brauchten nur noch einen Treffer und waren mehr als dran. Als ich dann nach dem Spiel auf diese dusselige Papierkugel angesprochen wurde, wollte ich erst den Interviewer bepöbeln, ob er keine bessere Frage hätte in so einem wichtigen Moment.“

Zum Glück aber blieb Jansen ruhig. Wie eigentlich alle beim HSV. Besonders Gravgaard. „Der war völlig geknickt in der Kabine“, erinnert sich Jansen, „ein Koloss von Mensch, ein Hüne und Vollathlet, saß da zusammengekauert zu einem kleinen Häufchen Elend.“ Das wiederum hob sich in dem Moment nicht zwingend von den anderen 17 niedergeschlagenen HSV-Profis ab.

„Wir alle wussten, dass wir eine historische Chance liegen gelassen hatten“, sagt Jansen heute. „Keiner tröstete den anderen, weil jeder für sich allein zu sehr geknickt war. Ich habe ehrlich gesagt selbst zwei, drei Tage gebraucht, um alle Umstände zusammenzufügen. Und das machte alles noch schlimmer. Die Papierkugel-Sache sah für Außenstehende sicher lustig aus – hatte aber katastrophale Folgen. Wir hatten den Finaleinzug verdient, weil wir in dem Wettbewerb tatsächlich die bessere Mannschaft waren. Ich bin mir auch sicher, dass wir im Finale besser ausgesehen hätten. Nein: Wir hätten ziemlich sicher den Titel geholt.“ Werder verlor das Endspiel in Istanbul gegen Donezk.

Jansen stoppt, hält kurz inne und blickt verträumt auf die leeren Ränge der Imtech-Arena, wie die HSV-Spielstätte heute heißt. „Letztlich aber jammere ich gerade auf sehr hohem Niveau. Von einem Uefa-Cup-Halbfinale träumen wir heute.“ Dass die Niederlagenserie gegen Werder Bremen – der HSV verlor auch das DFB-Pokal-Halbfinale – ein Wendepunkt zum Negativen beim HSV war, mag Jansen nicht verneinen. „Wer weiß, wie sich die damals steil nach oben gehende Spirale weitergedreht hätte, wenn wir einen internationalen Titel geholt hätten?“ Damals herrschte in Hamburg eine Euphorie, die spätestens ein Jahr später, als der HSV wieder im Halbfinale des gleichen Wettbewerbs an Fulham scheiterte, verpuffte. „Beides zusammen hat Frust bei uns, den Vereinsoffiziellen und den Fans hervorgerufen. Es wird immer die verpasste Chance bleiben.“

Ganz am Rande musste der HSV noch eine Niederlage hinnehmen. Die angeblich originale Papierkugel liegt in einer Vitrine im Werder-Museum in Bremen.

Marcell Jansen bleibt die Hoffnung: „Celle passt auf, dass so etwas nie wieder passiert...“ Auch nicht am Sonnabend gegen Hoffenheim.