Hamburger Sportstars an den Stätten großer Momente. Blue-Devils-Kicker Timo Erbs und sein legendärer Fehltritt im Finale um die deutsche Footballmeisterschaft 1999.

Hamburg. Augenblicke, die eine Karriere prägen. Orte, die man nicht vergisst. Das Abendblatt bat 15 Sportler, an Hamburger Stätten großer Momente zurückzukehren und sich dort an ihre Vergangenheit zu erinnern. Die Serienteile lesen Sie bis Anfang September regelmäßig an dieser Stelle.

"Timo Erbs ist schon raus", sagte Timo Erbs. Kameras, Mikrofone, Diktiergeräte hatten sich auf ihn gerichtet, und Erbs wusste, dass dies alles allein ihm galt. Aber er wusste auch, dass die vielen Menschen hinter den Geräten vermutlich zum ersten Mal bei einem Footballspiel gewesen waren und jedenfalls kaum eine Vorstellung davon hatten, wie der Mann unter dem blauen Helm mit der Nummer 3 wohl aussah. Was hätte Erbs schon auf ihre Fragen antworten sollen, wie er sich jetzt fühlt und so weiter. Enttäuscht? Niedergeschlagen? Wie die ärmste Sau auf diesem Planeten? Nein, das hätte ihm jetzt auch nicht geholfen. Erbs schaffte es also vorbei an den Reportern und ihren Fragen und hinein in den Arm von Horst Meinhardt, dem Athletiktrainer der Hamburg Blue Devils. Dann konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Wenige Minuten zuvor war er noch ganz ruhig gewesen, obwohl 30.400 Zuschauer das Volksparkstadion erbeben ließen. Erbs hatte es gemacht wie immer, wenn er zum Kick antrat: drei Schritte zurück, zwei nach links. Dann war er angelaufen, hatte den Oberkörper nach vorn gelegt und gegen den Ball getreten. Er hatte den Schuss nicht voll durchgezogen wie sonst, sondern ganz locker aus dem Fußgelenk abgegeben.

War ja nur ein Extrapunktversuch, reine Routine. Es hätte den Ausgleich zum 25:25 bedeutet in diesem German-Bowl-Endspiel gegen die Braunschweig Lions. Alle waren in diesem Moment auf die Verlängerung eingestellt, und in der schien vieles für die Blue Devils zu sprechen, hatten die doch einen 10:25-Rückstand aufgeholt. Erbs schoss, das Ei stieg auf. Dann geschah das Unglaubliche: Der Ball prallte von der Torstange ab und fiel zurück ins Feld.

Klong! Das Geräusch des angeschlagenen Aluminiums hat Erbs immer noch im Ohr. Er sagt: "Dieser Fehlschuss verfolgt mich bis heute."

Fast 14 Jahre hat Erbs den Ort dieses Finaldramas nicht mehr betreten, das zugleich der Höhepunkt in der deutschen Footballgeschichte war. Nie hat ein Erstligaspiel eine so große Kulisse gehabt. Nie wieder sind sich zwei Teams auf einem so hohen Niveau begegnet.

Nie haben die Blue Devils einen besseren Kicker gehabt als Erbs. 97,11 Prozent betrug seine Erfolgsquote bei Extrapunktversuchen am Ende jener Saison 1999. "Mr Zuverlässig", den Spitznamen haben sie ihm damals gegeben. Gegen die Cologne Crocodiles schoss er die Blue Devils bei abgelaufener Spielzeit zum Sieg - aus 54 Yards Entfernung. Das Video kann man sich bei YouTube ansehen.

Den Ball von damals hat Timo Erbs aufgehoben. Das Leder ist ein bisschen verwittert, es kann die Luft nicht mehr richtig anhalten. Vielleicht hat auch ihm der Pfostentreffer nicht gut getan.

Erbs, 44, der kickende Schornsteinfeger aus Stormarn, ist immer noch fit, das Trikot von 1999 lässt reichlich Luft um die Hüften. An diesem Frühjahrstag 2013 steht er erstmals wieder auf dem ramponierten Rasen des Stadions, das seither dreimal den Namen gewechselt hat. Die Blue Devils spielen schon lange nicht mehr hier. Sie haben eine Irrfahrt hinter sich: vom Millerntorstadion über Altona-Nord und Itzehoe bis zur aktuellen Spielstätte, der Adolf-Jäger-Kampfbahn von Altona 93 in Ottensen. Seit 2011 tritt die Mannschaft unter dem Namen HSV Blue Devils an.

Seither ist auch Timo Erbs wieder dabei. 2002 hatte er aufgehört, nach insgesamt sechs Spielzeiten, drei Meisterschaften und 480 Punkten - nur Maximilian von Garnier, sein heutiger Trainer, hat mehr Zähler (768) für die Blue Devils gesammelt, allerdings benötigte der dafür 17 Jahre. "Die Jungs", sagt Erbs, "könnten alle meine Söhne sein." Auch das Fußballspielen hat er wieder angefangen, mit der zweiten Mannschaft des VfL Oldesloe hat der Linksfuß gerade den Aufstieg in die Kreisklasse B geschafft.

Als Footballkicker war Erbs an der Schwelle zur Weltklasse. Die Trainer von Berlin Thunder wollten ihn als Profi für die NFL Europe League verpflichten, aber dann bekam aus PR-Gründen der frühere Hertha-Spieler Axel Kruse den Job. Dabei hatte sich Erbs das Kicken im Grunde selbst beigebracht, mithilfe von Zeichnungen und Heften, die er sich aus den USA besorgt hatte.

Mit dem Football fing er bei den Stormarn Vikings als Verteidiger an, später hat er das Team als Quarterback in die Regionalliga geführt. Bei den Blue Devils heuerte er 1996 als Passempfänger an, "aber ehrlich gesagt hatte ich kein Bundesliganiveau". Als im Lauf der Saison der Kicker ausfiel, erinnerten sich einige im Team, dass Erbs schon bei den Vikings einen starken Fuß bewiesen hatte. Von da an war er der Mann für die besonderen Aufgaben. "Den Sekundenjob", wie Erbs sagt. Ihn habe dieser Job immer ausgefüllt: "Man glaubt gar nicht, was da für ein Adrenalinstoß durch den Körper geht." Ein Kick beim Kick.

Vergangene Saison wollte er mit dem Football aufhören, zum dritten und dann auch letzten Mal. Aber als er seinem Nachfolger bei der Arbeit zusah, hat er sich wieder umentschlossen: "Ich konnte es kaum mit ansehen, das hatte kein Bundesliganiveau." Also hängte er eben noch ein Jahr an, auch wenn ihm die Blue Devils das schon lange nicht mehr mit einer Aufwandsentschädigung danken.

Deutscher Meister wird Timo Erbs so schnell wohl nicht wieder werden. Gegen die Lions ist seine Mannschaft an diesem Sonnabend (18 Uhr) Außenseiter. Ähnlich wie beim German-Bowl-Sieg 2002, als man die bis dahin unbesiegten Braunschweiger in deren eigenem Stadion besiegte. "Dieses Spiel hat alles wieder gutgemacht", sagt Erbs. Auch seinen legendären Fehltritt.