Im Abendblatt spricht der HSV-Sportchef über die übermächtigen Bayern, seinen Wunsch-Aufsichtsrat, Kühnes Kritik und Visionen für den Verein

Hamburg. Das Wochenende nach dem 2:0-Sieg beim FC Augsburg am Freitag konnte Frank Arnesen endlich mal wieder in vollen Zügen genießen. Gemeinsam mit Ehefrau Kate flog der Sportchef des HSV nach London, wo die beiden am Sonnabend Tochter Rebecca, 24, besuchten und am Sonntag zu einer Hochzeit gingen. Trotz der Feierlichkeiten in der alten Heimat nahm sich der Däne gern Zeit für das Abendblatt, um in seinem ersten ausführlichen Interview der Saison über die Zukunft seines neuen Heimatvereins zu sprechen.

Hamburger Abendblatt:

Herr Arnesen, sind Sie beim Frühstück mit Ihrer Frau am Morgen nach Sieg oder Niederlage ein anderer Mensch?

Frank Arnesen:

Ich bin seit 38 Jahren mit meiner Frau zusammen. Natürlich weiß sie, dass ich ein ganz schlechter Verlierer bin. Ich kann nach Niederlagen auch nicht gut schlafen, aber zumindest bin ich ein wenig gelassener geworden. Als Spieler war ich nach einem verlorenen Spiel noch viel schlimmer.

Die Tage nach dem Sieg in Augsburg dürften Sie genossen haben.

Arnesen:

O ja. Es ist ein wirklich gutes Gefühl, ein ganzes Wochenende mit der Gewissheit des Sieges genießen zu können. Der Erfolg in Augsburg war besonders wichtig, weil wir auf den Rückschlag gegen Stuttgart super reagiert haben. Es war ein Sieg der Mentalität.

Am kommenden Wochenende sind die übermächtigen Münchner zu Gast. Muss Ihre Frau dann doch wieder mit schlechter Laune am Sonntag rechnen?

Arnesen:

Gegen die Bayern muss man mit allem rechnen, aber selbstverständlich haben wir auch das Zeug dazu, die Münchner zu ärgern. Wir wollen versuchen, den Bayern wehzutun.

Münchens Präsident Uli Hoeneß hat gesagt, dass der HSV der einzige Verein sei, der den Bayern langfristig gefährlich werden könnte. Wie kommt er darauf?

Arnesen:

Das muss ich ihn auch fragen, wenn wir mit den beiden Vorständen vor dem Spiel am Sonnabend im Fischereihafen-Restaurant essen gehen (lacht.) Aber im Ernst: Eigentlich hat der Uli ja recht. Hamburg ist eine fußballverrückte Stadt mit 1,9 Millionen Einwohnern. Dazu kommt noch, dass keine Stadt in Deutschland so reich ist. Von den Voraussetzungen her müsste der HSV auf Augenhöhe sein.

Und warum ist das nicht so?

Arnesen:

Wir haben seit 25 Jahren keinen Titel mehr geholt, während die Bayern Jahr für Jahr um die ganz großen Erfolge kämpfen. Der entscheidende Grund hierfür ist aus meiner Sicht, dass die Bayern es geschafft haben, eine weltweit einmalige Konstanz in der Vereinsspitze aufrecht zu halten. Seit rund 30 Jahren sind Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge und Franz Beckenbauer die wichtigsten Entscheider, hinzu kommt noch Finanzvorstand Karl Hopfner, der nun im kommenden April aufhört. Eine derartige Führungsstruktur gibt es in der Welt kein zweites Mal.

Hoeneß kritisierte, dass vor allem die Vereinsstruktur mit einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat und relativ mächtigen Mitgliedern dem HSV im Wege stehen würde. Hat er recht?

Arnesen:

Nicht einfach zu beantworten. Zunächst mal muss ich betonen, dass unser Aufsichtsrat und unser Vorstand trotz der schwierigen letzten Saison sehr gut zusammengearbeitet haben. Das ist keineswegs selbstverständlich. Aber natürlich ist es auch kein Geheimnis, dass der Aufsichtsrat beim HSV eine sehr präsente Rolle einnimmt. Bei den Bayern sitzen Vertreter von Telekom, Adidas und Audi im Aufsichtsrat, die sich im Hintergrund aufhalten. Ähnlich war das auch bei meiner ersten Station in Eindhoven, wo beispielsweise ein Vertreter von Philips im Kontrollgremium dabei war. Diese wirtschaftliche Kompetenz kann für einen Fußballverein Türen öffnen.

Also hat Hoeneß recht?

Arnesen:

Das kann man so pauschal nicht sagen. Natürlich würde ich es begrüßen, wenn sich bei den Aufsichtsratswahlen im Januar auch der eine oder andere Vertreter aus Wirtschaftskreisen engagieren würde. Aber ich bin auch den aktuellen Kontrolleuren zu großem Dank verpflichtet.

Warum?

Arnesen:

Im Mai gab es den klaren Auftrag an mich, dass ich nicht mehr ausgeben darf, als ich einnehme. Wir haben dann Gökhan Töre und Paolo Guerrero für gutes Geld verkauft, und diese Millionen direkt in die Transfers von Artjoms Rudnevs und Milan Badelj reinvestiert. Gemeinsam mit dem Vorstand haben wir dann darauf aufmerksam gemacht, dass wir ein kontrolliertes Risiko eingehen müssen, um mit diesem Team den nächsten Entwicklungsschritt zu machen. Und der Aufsichtsrat ist unserer Empfehlung gefolgt, wodurch wir doch noch Petr Jiracek und mit der Hilfe von Klaus-Michael Kühne auch Rafael van der Vaart kaufen konnten. Ohne die Zustimmung des Aufsichtsrats wären diese Transfers nicht möglich gewesen.

Und ohne die Hilfe Kühnes auch nicht. Haben Sie mal gefragt, ob er dem HSV noch einen Stürmer finanzieren könnte?

Arnesen:

Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn er uns wieder bei einem Transfer helfen würde.

Gibt es konkrete Überlegungen?

Arnesen:

Nein, momentan nicht. Jeder weiß, dass Herr Kühne uns vor allem bei dem Transfer Rafael van der Vaarts helfen wollte. Das haben wir mit einem gemeinsamen Kraftakt tatsächlich geschafft. Wir werden sicher weiter im Gespräch bleiben. Er ist einer unserer größten Sponsoren, mit einem riesigen HSV-Herz. Ich halte es dauerhaft aber nicht für zielführend, wenn wir jedes Mal wegen eins einzelnen Spielers bei ihm auf der Matte stehen.

Klaus-Michael Kühne hat Sie öffentlich hart kritisiert. Prallt das an Ihnen ab?

Arnesen:

Über die Jahre habe ich mich daran gewöhnt, dass ich beobachtet und auch kritisiert werde. Das macht mir nichts mehr aus. Ich habe eine Elefantenhaut, die brauchte ich vor allem im letzten Jahr. Da uns Herr Kühne aber gleichzeitig so sehr bei van der Vaart geholfen hat, kann ich das als ziemlich gutes Schmerzensgeld verbuchen. (lacht)

Der HSV hat sich letztendlich für 27 Millionen Euro in diesem Sommer verstärkt, nur Gladbach und Bayern haben noch mehr ausgegeben. Muss damit nicht zwangsläufig in der nächsten Saison die Zielsetzung Europa sein?

Arnesen:

Selbstverständlich. Mit den Transfers von van der Vaart und Jiracek haben wir Ende August zwei Schritte nach vorne gemacht, die in diesem Sommer ursprünglich nicht geplant waren. Dieses Team hat nun eine große Qualität, die nur noch sukzessive ergänzt werden muss, damit es in der kommenden Saison auch um die internationalen Plätze mitspielen kann. Daran müssen wir uns dann messen lassen.

Haben Sie eine Vision für den HSV?

Arnesen:

Vision ist ein hochtrabendes Wort. Ich spreche lieber von Zielen. Und mein Ziel ist ganz klar, dass ich beim HSV eine Mannschaft forme, die Jahr für Jahr um die internationalen Plätze, mal Europa League, mal Champions League, spielt. Eine Stadt wie Hamburg, da hat Uli Hoeneß absolut recht, muss einen Verein haben, der diesen Anspruch verfolgt.

Unabhängig vom aktuellen Tabellenplatz: Wofür steht der HSV?

Arnesen:

Der HSV ist ein Verein, der von seinen Fans und Mitgliedern getragen wird. Ich habe schon viele Klubs in Europa gesehen, aber wie sehr dieser HSV die Leute emotional berührt, das ist schon außergewöhnlich. Ich halte es für einmalig, wie die Fans die Mannschaft in der schwierigen Vorsaison unterstützt haben. Da gibt es auch ganz andere Beispiele. Und denken Sie mal an die Anleihe für unser wichtiges Campus-Projekt: Es hat gerade mal 17 Tage gedauert, bis unsere Anhänger Zukunftsanleihen für 12,5 Millionen Euro gezeichnet hatten. Weil der Erfolg so überwältigend war, werden wir noch eine zweite Tranche auflegen. Diese Anleihe ist elementar wichtig für die Entwicklung unserer Vereinsphilosophie.

Wie sieht diese Philosophie aus?

Arnesen:

Es war von Anfang an mein Ziel, dass Nachwuchsbereich und Profiabteilung enger zusammenrücken müssen. Durch den HSV-Campus werden nun in Zukunft Profis, U23, U19 und U17 hier im Volkspark trainieren. Damit ist es einfacher, dass der Austausch zwischen den Mannschaften und den Trainern gefördert wird. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass alle Teams in Zukunft das gleiche Spielsystem einstudieren: von der U9 bis zur U23. Wir haben damit schon im vergangenen Jahr angefangen. So haben alle Nachwuchsmannschaften ein 4-3-3-System als Grundtaktik. In unserem Nachwuchsbereich darf nicht das Gewinnen unsere Priorität sein, sondern die individuelle Entwicklung der Talente. Das übergeordnete Ziel ist unsere Profimannschaft, die in der Zukunft von den verbesserten Strukturen im Nachwuchs profitieren soll.

Für den Nachwuchs verantwortlich ist Bastian Reinhardt, dessen Vertrag im Sommer ausläuft. Verlängern Sie?

Arnesen:

Ich möchte zunächst mal schauen, in welche Richtung sich unser Nachwuchsbereich entwickelt. Da bin ich auch im engen Austausch mit unserem Technischen Direktor Lee Congerton, der quasi mein Oktopus ist. Er hat überall für mich seine Hände im Spiel. Über Bastis Vertrag werden wir dann im Frühling entscheiden.

In der Scoutingabteilung gab es bereits in den vergangenen Wochen einige personelle Wechsel.

Arnesen:

Das stimmt. Aus Kostengründen haben wir drei Mitarbeiter verloren: unseren Südamerikascout, meinen Sohn Sebastian, der den Beneluxmarkt im Auge hatte, und unseren Balkanscout, die beide zu Manchester City gewechselt sind. Wir haben uns dafür entschieden, dass wir unsere Kompetenzen konzentrieren müssen. Zu unserem Team gestoßen ist nur der Ex-Profi Thomas Hengen, der den deutschen Markt und die Beneluxstaaten im Auge behalten soll. Er war zuletzt fünf Jahre lang für den FC Everton tätig, hat da sehr gute Arbeit geleistet.

Sie haben in der vergangenen Saison für sehr viel Geld junge Nachwuchsspieler aus Dänemark und Tschechien zum HSV gelotst. Gibt es in Norddeutschland keine Talente mehr?

Arnesen:

Genau das wurde mir gesagt, und ich kann das genauso wenig glauben wie Sie. Natürlich gibt es in einer Metropolregion wie Hamburg Talente, die wir finden und formen müssen. Das heißt aber nicht, dass es ausgeschlossen ist, dass wir auch Talente aus Dänemark, Tschechien oder auch Südkorea holen. Wir müssen kreativ sein, dürfen nichts ausschließen. Nur wenn wir im Nachwuchs und im Scouting erfolgreich arbeiten, haben wir in ferner Zukunft tatsächlich die Chance, die Bayern mal etwas mehr als nur in einem Spiel zu ärgern.