Mehr als 4000 verkaufte Trikots, 83.000 Follower bei Twitter: Noch nie hat ein Spieler Verein und Stadt derart auf den Kopf gestellt. Eine Analyse.

Hamburg. Wer nach einer Woche des ganz normalen Wahnsinns am Sonntag von Rafael van der Vaart noch nicht genug hatte, der musste Eigeninitiative ergreifen. Da der HSV gestern trainingsfrei hatte, konnten unersättliche Anhänger des Niederländers lediglich über den Internetdienst Twitter nach Neuigkeiten forschen. So verriet Gattin Sylvie, dass die van der Vaarts am Sonnabend einen Familientag machten, nach Häusern schauten und sich abends mit dem deutsch-holländischen Model Petra van Bergen zum Essen trafen. Am Sonntag wurden über Twitter lediglich Capuccino-Rezepte ausgetauscht, was immer noch mehr als 83.000 "Follower" nachlasen. Der Hype um van der Vaart, so viel steht fest, geht ungebremst weiter. Das Abendblatt analysiert, wie der Faktor van der Vaart einen Verein und eine Stadt in nur einer Woche um den Verstand gebracht hat.

Die Begeisterung ist zurück

Dass ganz Hamburg seit der Ankunft van der Vaarts im Ausnahmezustand ist, kann wohl jeder Mitarbeiter der HSV-Fanshops bezeugen. Bereits am vorletzten Sonnabend, am Tag nach der Vertragsunterzeichnung, mussten zusätzliche Aushilfen in den Fanshops Überstunden schieben. Mehr als 4000 Trikots mit der Rückennummer 23 wurden seitdem verkauft, die Nachfrage für Heimspiele stieg sprunghaft und sogar auf dem Immobilienmarkt sorgte van der Vaarts Rückkehr für Euphorie. So hat der HSV von nahezu allen namhaften Maklern Angebote erhalten, dem Niederländer eine Wohnung zu vermitteln. "Nachdem noch vor einigen Tagen ganz Hamburg trauerte, glaubt plötzlich jeder, dass der HSV mit van der Vaart oben angreifen kann", sagt HSV-Trainer Thorsten Fink, der sich über den Stimmungswandel freut, gleichzeitig aber warnt: "Natürlich spürt das Team diese Aufbruchstimmung, aber Rafael alleine kann es nicht richten. Jeder Einzelne ist nun gefragt."

Sportlich geht es aufwärts

In den Testspielen gegen Schwarzenbek (12:0) und Niendorf (11:2) konnten Beobachter einen ersten Eindruck erhalten, wie sehr van der Vaart bereits schon jetzt neuer Dreh- und Angelpunkt im Hamburger Offensivspiel ist. Dabei baut Trainer Fink darauf, dass der 29-Jährige auch seine zuletzt formschwachen Nebenleute stärker macht. "Er kann den Ball in die Tiefe spielen, den andere eben nicht spielen können", sagt Fink, der sich sicher ist, dass besonders Youngster Heung Min Son und Stürmer Artjoms Rudnevs von van der Vaarts Zuspielen profitieren werden. Zudem hofft der Trainer, dass auch Tolgay Arslan trotz seiner Degradierung zum Van-der-Vaart-Ersatz besser wird. "Tolgay ist ein junger Spieler, kann sich viel von van der Vaart abgucken. Er wird in seinem Schatten wachsen."

+++ Van der Vaart: Die Gefahren eines Comebacks +++

Eifersüchteleien im Kader sind laut Fink nicht zu befürchten: "Ich bin sicher, dass jeder glücklich darüber ist, dass van der Vaart ein wenig Druck von der Mannschaft nimmt." Auch Thomas Doll, der den Mittelfeldregisseur bei seinem ersten HSV-Engagement trainierte, glaubt nicht an eine mannschaftsinterne Neiddebatte. "Das wirklich Besondere an van der Vaart ist, dass ihm der rational nicht zu erklärende Starkult überhaupt nicht über den Kopf wächst - ganz im Gegenteil."

So erinnert sich Doll, dass der gebürtige Nordholländer nie einen Autogrammwunsch verweigerte, sich immer Zeit für Fans, Sponsoren und Medien nahm. "Vielleicht können die jungen Spieler, die sich bereits für Superstars halten, durch Rafa lernen, wie sich ein wahrer Superstar zu verhalten hat", sagt Doll.

Wirtschaftlich ein Wagnis

Bei aller Euphorie sollte aber nicht vergessen werden, dass der HSV durch die Verpflichtung van der Vaarts das wahrscheinlich größte finanzielle Risiko der Vereinsgeschichte eingeht. Mit 13 Millionen Euro musste der klamme Verein neben dem 3,5-Millionen-Euro-Gehalt van der Vaarts eine Rekordablöse stemmen, die nur durch ein Millionendarlehen von Investor Klaus-Michael Kühne möglich war. "Das ist möglicherweise kein fairer Wettbewerb", kritisiert Frankfurt-Chef Heribert Bruchhagen in der "Bild"-Zeitung, "das ist doch nichts anderes als ein Kredit eines Privatmanns, weil von den Banken nichts mehr kommt." Tatsächlich hat es auch im Aufsichtsrat des HSV noch am Tag des Transfers sehr kontroverse Diskussionen über das finanzielle Risiko gegeben. Drei Kontrolleure, deren Namen dem Abendblatt bekannt sind, die aus Fürsorgepflicht aber in der Zeitung nicht genannt werden, stimmten am Ende der Gespräche gegen den Millionendeal, der den Verein in den kommenden Jahren finanziell extrem unter Druck setzt. Selbst HSV-Vorstand Carl Jarchow gab am Wochenende gegenüber NDR 90,3 zu, dass ihn das zu erwartende Millionenminus schwer zu schaffen macht: "Das belastet mich." Der eingeschlagene Weg der Konsolidierung wurde erst mal verlassen.

+++ HSV-Chef Jarchow spricht über hohe Transfer-Ausgaben +++

Doch trotz aller verständlichen Bedenken hoffen die HSV-Verantwortlichen, dass sich das Risiko für den Verein auszahlen wird. Denn so teuer der Transfer auch sein mag, durch den Kauf steigt automatisch auch die Qualität und damit der Wert von van der Vaarts Nebenleuten. Um aber den angestrebten Sprung aus den Abstiegsrängen in das obere Tabellendrittel zu schaffen, werden vermutlich weitere Transfers nötig, die das Risiko einer Überschuldung potenzieren.

"Der HSV hat schon jetzt den fünfthöchsten Gehaltsetat der Bundesliga, da ist es zu wenig, dass nur der Nichtabstieg ein Ziel sein soll", sagt Ex-HSV-Kapitän Nico-Jan Hoogma, der den Verein zur Verpflichtung seines Landsmanns trotzdem beglückwünscht: "Er sorgt für eine andere Qualität. Allerdings wird es Rafa auch nicht alleine richten können."

Dieser Joker muss stechen

Es bleibt festzuhalten, dass die Aufbruchstimmung dem HSV und der verunsicherten Mannschaft guttun wird. Trotzdem kann man nicht oft genug betonen, dass van der Vaart tatsächlich der letzte Joker des HSV nach einer verkorksten Saison und einer bis kurz vor Schluss verkorksten Transferperiode ist. Dieser Joker muss nun stechen.