Beim HSV überdeckt die Diskussion um Trainer Michael Oenning das Grund-Dilemma

Der digitale Zeitmesser ist inzwischen fast eine Art Wahrzeichen des HSV. Auf die Sekunde genau zeigt die Uhr im Eck der Arena die Zeit an, die der Traditionsverein nunmehr ununterbrochen im Oberhaus der Liga verbringt - mehr als 48 Jahre. Dieses Alleinstellungsmerkmal im deutschen Fußball hat der Klub wie die Raute in seine Kern-DNA eingepreist, tituliert sich gern als "Bundesliga-Dino".

In guten Zeiten ist dies ein angenehmes Attribut, in schlechten liegt das Wortspiel vom "Dino im Überlebenskampf" nur einen Kurzpass entfernt. Und die Zeiten sind schlecht. Extrem schlecht. Nach dem 3:4 gegen den 1. FC Köln rangiert der HSV auf dem letzten Tabellenrang. Dass die Zeit-Diskussion aktuell vor allem darum kreist, wie viel Zeit Trainer Michael Oenning noch bleibt, kann niemanden überraschen. Wer wie Oenning - saisonübergreifend - von zwölf Bundesliga-Spielen nur eines gewinnt, muss sich dieser Diskussion stellen. Dies gilt auch für die neue Chefetage.

Gegen Hysterie hilft indes mitunter ein schneller Blick ins Archiv. Etwa unter S wie Slomka. Für Nicht-Fußballkenner: Der Trainer von Hannover 96 gilt derzeit in der Branche als eine Art Guru. Gepriesen wird seine Fähigkeit, eine mittelmäßige Mannschaft mit bescheidenen Mitteln zum Erfolg zu führen. Vor gut zwei Jahren war genau jener Slomka nach einer Niederlagen-Serie noch Top-Kandidat bei allen Wettbüros auf den nächsten Trainer-Rauswurf. Die Binse von der Schnelllebigkeit des Fußball-Geschäfts wird Oenning natürlich nichts nützen. Hält die Niederlagenserie an, wird er den Job quittieren müssen und nach den Gesetzen der Branche wohl durch einen sogenannten Feuerwehrmann, gern auch "harter Hund" genannt, ersetzt.

Am Grund-Dilemma des HSV würde aber auch eine solche Entscheidung nichts ändern. Der viel zitierte personelle Umbruch war zwar ohne Frage notwendig. Ein "weiter so" mit einer völlig überalterten und überteuerten Mannschaft verbot sich schon aus wirtschaftlichen Gründen. Doch auf diesen Umbruch war der HSV in etwa so gut vorbereitet wie der einstige Versandhausriese Quelle auf das Internet-Zeitalter: gar nicht. Während Liga-Rivale Borussia Dortmund nach einem Fast-Konkurs mit großem Erfolg auf junge deutsche Talente setzen konnte, musste der neue HSV-Sportchef Frank Arnesen im Nachwuchsbereich und in der Scouting-Abteilung durch eine Trümmerlandschaft navigieren. Man kann Arnesen vorwerfen, dass er nur bei seinem ehemaligen Arbeitgeber Chelsea nach Jung-Profis fahndete. Nicht anlasten kann man ihm die mangelnde Suche nach Talenten in den eigenen Reihen. Wie schlecht der HSV hier seit Jahren trotz Millionen-Investitionen aufgestellt ist, dokumentieren die DFB-Nachwuchsmannschaften, wo Talente mit der Raute so selten sind wie Erfolge in der Bundesliga.

Über Jahre fehlende sportliche Kompetenz im Vorstand - am Ende stieg sogar der verdiente Ex-Profi Bastian Reinhardt auf abenteuerliche Weise vom Praktikanten zum Sportchef auf - rächt sich irgendwann. Oenning sitzt am undankbaren Ende der Chaoskette. Auch er mag sich mit manchen Personalentscheidungen zuletzt geirrt haben. Zudem taugt er mit seiner spröden Art nur begrenzt zur Identifikationsfigur des Neuanfangs. Aber es ist nicht seine Schuld, dass die von ihm eingeforderten Wunschtransfers - wie des Nürnbergers Ilkay Gündogan - scheiterten, weil der designierte Sportchef Arnesen in der entscheidenden Transferphase im Frühsommer noch nicht die nötige Prokura hatte.

Es ehrt Oenning, dass er darüber nie öffentlich geklagt hat. Schon deshalb hat er zunächst eine faire Chance verdient. Zudem haben in der jüngsten Vergangenheit die Trainerwechsel im Jahrestakt dem Fußball-Dino auch kein frisches Leben eingehaucht.