Der HSV hat den BVB als Vorbild auserkoren. Spätestens seit Freitag ist klar, dass die Hamburger noch eine lange Strecke vor sich haben.

Hamburg. Am Tag nach der denkwürdigen Niederlage zum Bundesligaauftakt gegen den BVB stand beim HSV das große Wundenlecken auf dem Programm. Während Sportchef Frank Arnesen die Dortmunder Dominanz bei einer gemeinsamen Fahrradtour durch Eppendorf mit seiner Frau verarbeitete, überzeugte sich Trainer Michael Oenning am Sonnabend vor Ort beim kommenden Gegner Berlin gegen Nürnberg, dass auch andere Mannschaften einen gebrauchten Tag erwischen können. "Wir haben uns mit unseren Mitteln gewehrt. Aber man muss sich auch ganz ehrlich eingestehen, dass wir gegen eine absolute Top-Mannschaft verloren haben", sagte Oenning, "Dortmund hat perfekten Fußball gespielt, wir haben immerhin Moral bewiesen. Am Sonnabend geht es gegen Hertha weiter."

Es ist keine drei Monate her, da sezierte Oenning den Borussen-Fußball bei einer Powerpoint-Präsentation fein säuberlich mit dem Skalpell wie ein Chefarzt bei einer Operation. Den beeindruckten Aufsichtsräten erklärte der damalige Interimstrainer, was die wirklichen Gründe für Dortmunds Fußball 3.0 sind. Die Mannschaft von Trainerkollege Jürgen Klopp spiele direkter, laufe mehr und sprinte schneller, sagte Oenning, der seine Erkenntnisse mit einer ganzen Reihe von Zahlen dokumentierte. Während die junge BVB-Mannschaft in der Meistersaison im Schnitt 120 Kilometer und mehr unterwegs war, kam der überalterte HSV in der vergangenen Spielzeit auf gerade mal 115 Kilometer. Im direkten Duell in Hamburg sprinteten Dortmunds Profis im Schnitt mehr als 600 Meter, die Hamburger nur knapp 500 Meter. Oennings Schlussfolgerung: Seine Mannschaft solle jünger und belastbarer werden, das Spiel breiter und schneller. Kurzum: ein bisschen mehr Borussia.


Oenning: Viele Profis sind gute Schauspieler

Drei Monate später musste Oenning am Freitag erkennen, dass es noch ein weiter Weg zwischen Theorie und Praxis ist. "Was Dortmund in der ersten Halbzeit gespielt hat, ist der Maßstab, an dem wir uns momentan noch nicht orientieren können", konstatierte der Hamburger Fußballlehrer. Erneut war der BVB in allen relevanten Statistiken vorne: Nach Angaben der Datenbank Impire, die alle Werte für die Bundesliga analysiert und den Vereinen zur Verfügung stellt, liefen die Dortmunder beeindruckende 124,7 Kilometer, spielten 420 Pässe und schossen 16-mal auf das Tor, die Hamburger rannten gerade mal 113,7 Kilometer, spielten mit 210 nur halb so viele Pässe und schossen gerade mal siebenmal auf das Tor. Der HSV hatte mit 51 zu 49 Prozent lediglich mehr Ballbesitz. Allerdings hatte Oenning schon bei seiner damaligen Präsentation erklärt, dass dieser Wert für den Ausgang eines Spiels nicht relevant sei. Entscheidend war viel mehr, was nach 90 Minuten auf der Anzeigentafel zu sehen war: BVB 3, HSV 1.


Sind Sie ein Bundesliga-Experte? Testen Sie Ihr Wissen

"Wir haben gesagt, dass wir einen Umbruch wollen. Dass so ein Schnitt Zeit dauert, das hat man heute gesehen", sagte Rechtsverteidiger Dennis Diekmeier, den Dortmunds makelloser Fußball nachhaltig beeindruckte: "Bupp, bupp und Torschuss - so einfach ist das." Der Maßstab, da waren sich alle Hamburger nach der Lehrstunde einig, darf nicht die Partie beim Meister, sondern muss das Heimspiel gegen Hertha BSC sein. "Wir müssen aus dieser Niederlage lernen, dürfen jetzt nicht zerfallen", sagte Heiko Westermann, der einen "Klassenunterschied" zwischen seinem Team und dem BVB ausgemacht hatte. "Unser Problem war, dass wir keinen Zugriff im Mittelfeld hatten", analysierte der Kapitän.

So oft Westermann im Spiel gegen die Borussia auf dem Platz die falschen Schlüsse gezogen hatte, so richtig lag er mit seiner Analyse nach der Partie. Seine Vorderleute Gojko Kacar und Tomas Rincon hatten im defensiven Mittelfeld dem Dortmunder Triumvirat, bestehend aus Mario Götze, Shinji Kagawa und Kevin Großkreutz, nichts entgegenzusetzen. Während es das Hamburger Mittelfeldduo zusammen auf 77 Ballkontakte brachte, verarbeitete Götze alleine beeindruckende 87-mal den Ball. Kacar und Rincon schafften offensiv keine Entlastung und liefen defensiv immer nur hinterher. "Gojko hatte nicht seinen besten Tag", gab Oenning nach dem Spiel offen zu, ohne dabei aber Konsequenzen im Hinblick auf das Heimspiel gegen Hertha anzukündigen.

Dabei würden dem HSV mit David Jarolim, Robert Tesche und Neuzugang Per Skjelbred gleich drei Alternativen im zentralen Mittelfeld zur Verfügung stehen, in der Innenverteidigung könnte Jeffrey Bruma für den glücklosen Michael Mancienne zum Einsatz kommen. Und im Sturm dürfte Laufwunder Heung Min Son, der bis zum kommenden Wochenende seine Erkältung überstanden haben sollte, zumindest die Kilometerstatistiken etwas aufpolieren. So oder so wird sich schnell etwas ändern müssen. "Der HSV wird sich gewaltig steigern müssen, um aus dem Mittelmaß herauszukommen", sagte Sky-Experte Franz Beckenbauer.

Unerwähnt blieb am Freitag nur, dass die Dortmunder nicht nur drei Monate, sondern drei Jahre für ihren Umbruch brauchten. Diese Statistik war in der Impire-Datenbank aber nicht zu finden - und wurde auch nicht gesucht.