Der Bautechniker kandidiert auf der Versammlung für Mitglieder am 9. Januar als erster Gehörloser für einen Platz im Aufsichtsrat des Hamburger SV.

Hamburg. In der Geschichte des HSV-Aufsichtsrats gab es seit der Gründung 1996 viele Persönlichkeiten, die dem oft umstrittenen Gremium angehörten: einen Bürgermeister (Henning Voscherau), einen Börsenpräsidenten (Udo Bandow), eine Tagesschau-Sprecherin (Dagmar Berghoff), eine Fußballlegende (Willi Schulz) oder jetzt den Direktor eines Krankenhauses (Jörg Debatin). Aber ein Gehörloser? Noch nie wagte es jemand, vor Tausenden Mitgliedern mit seinen Händen um einen Platz im Rat zu kämpfen. Ohne Worte, aber mit der Kraft seiner beiden Hände, die er zur Gebärdensprache benutzt. Bis auf Holger Jegminat.

Zwei Jahre hat er mit sich gerungen. Schon 2008 wollte er antreten, verzichtete dann aber, weil er nicht aus Unwissenheit und Naivität gegen die Wand fahren wollte. Er ahnte, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bei solch einer ungewöhnlichen Kandidatur groß sein würde und spürte die Verantwortung einer solchen Vorreiterrolle. Doch jetzt siegte die Abenteuerlust, die Herausforderung anzunehmen.

Ein Gehörloser im Aufsichtsrat, wie soll das aber technisch überhaupt funktionieren? Der 47-Jährige lächelt, als habe er nur auf diese Frage gewartet. Mithilfe einer beim Abendblatt-Gespräch anwesenden Gebärdensprachdolmetscherin erklärt er, dass er dank dieser "Übersetzungshilfe" problemlos in der Lage sei, den Diskussionen zu folgen. Während die erschwerte Kommunikation auf den ersten Blick wie ein Nachteil erscheint, sieht Jegminat sogar Vorteile: "Jemandem das Wort abzuschneiden, dürfte schwieriger werden, wenn alles in Gebärdensprache übersetzt werden muss. Womöglich führt das sogar dazu, dass respektvoller und vorsichtiger formuliert wird." Von Geburt an gehörlos, verzichtete er bis heute auf einen möglichen operativen Eingriff (Cochlea-Implantat, eine Innenohr-Prothese): "Mein Leben verläuft auch so erfolgreich, ich sah bisher keine Notwendigkeit dazu."

Jegminat glaubt, dass die Zusammensetzung im Aufsichtsrat verändert werden müsse: "Die Vertreter der Wirtschaft sind überrepräsentiert. Was sollen diese Aufsichtsräte zu einer Diskussion über Leihspieler beitragen können? Es fehlt an sportlicher Kompetenz." Genau diese reklamiert der studierte Bautechniker, der bei Hochtief vor allem Stahlkonstruktionen entwirft, aber für sich. Seit seiner Jugend spielte der Linksfuß für den Gehörlosen SV in Hamburg, die Darbietungen des HSV verfolgt er seit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft 1979. Der von ihm mitbegründete HSV-Fanklub für Gehörlose zählt stolze 134 Mitglieder. Einmal im Monat bietet Jegminat "handgemachte" Stadionführungen an.

"Ich sähe mich als verlängerten Arm der Basis im Aufsichtsrat", sagt der gebürtiger Bad Oldesloer, der heute mit seiner Frau Christine und den beiden Kindern Christopher (20) und Anna (18, alle ebenfalls gehörlos) in Bargteheide lebt. "Ich habe den Eindruck, als ob das Fan-Dasein eher unten und das prestigeträchtige Aufsichtsratsamt oben angesiedelt ist. Mein Wunsch wäre es, beide Pole zur Mitte zu rücken."

Jegminat ist kein Träumer. Er weiß, dass seine Chancen im Wettbewerb mit 20 weiteren Kandidaten, die sich am 9. Januar auf der Mitgliederversammlung um vier freie Plätze bewerben, nur gering sind, aber ihn reizt die Mutprobe, sich auch als eine Art Botschafter für Gehörlose präsentieren zu dürfen: "Selbst wenn ich nicht erfolgreich sein sollte mit meiner Bewerbung, werde ich trotzdem eine Menge gelernt haben."

Sollte er tatsächlich gewählt werden, will sich Jegminat dafür einsetzen, die Arbeit des Aufsichtsrats transparenter zu gestalten. Die Basis müsste genauer über die Zusammenarbeit mit dem Vorstand und die entwickelten Konzepte informiert werden. Als Aufsichtsrat wäre Jegminat in der sportlichen Analyse zunächst vorsichtig. "Die Arbeit von Armin Veh ist erst richtig zu beurteilen, wenn alle Spieler wieder gesund sind. In der Hinrunde hatte der Trainer zu oft mit großem Verletzungspech zu kämpfen."