Rosts Rücktritt aus dem Mannschaftsrat ist nur ein Beispiel für gestörte Grundordnung - auch die Chefetage des HSV gibt kein gutes Bild ab.

Hamburg. Die Tür war zu. David Jarolim schaute sich etwas ungläubig um, gab ein zweites Mal den Pin-Code an der blauen Verbindungstür zwischen Buseinfahrt und Kabinentrakt ein und schüttelte genervt den Kopf. Von der Eingangstür über einen an sich harmlosen Kinobesuch bis zu den längst gefährdeten Saisonzielen scheint beim HSV derzeit so ziemlich alles aus den Fugen zu geraten. "Jetzt klappt noch nicht mal mehr das elektronische Türschloss", spottete der Tscheche, dem die passende Zahlenkombination gestern Mittag erst beim dritten Versuch einfallen wollte.

Viel wichtiger als ein richtiger Pin-Code scheint beim HSV derzeit ein Lösungsansatz für die größte Vereinskrise seit Jahren zu sein. Doch anders als für die Kabinentür gibt es für die sportliche Misere, die sich trotz des bevorstehenden Europa-League-Halbfinals gegen Fulham nicht wegdiskutieren lässt, offenbar kein griffbereites Patentrezept - weder von der Mannschaft, noch vom Trainerteam und auch nicht aus dem Vorstand. Führungslos auf allen Ebenen droht der HSV zum zweiten Mal in Folge auf der Zielgeraden die erfolgreichste Saison seit 26 Jahren zu verspielen.

Zerstörte Mannschafts-Hierarchie

Frank Rosts Rücktritt aus dem Mannschaftsrat ist das letzte Mosaiksteinchen einer inzwischen zerstörten Hierarchie. Nachdem verletzungsbedingt die erste, zu Saisonbeginn funktionierende Hackordnung aus den Fugen geriet, wurden mit Rost und Jarolim am vergangenen Wochenende auch die letzten beiden Führungsspieler degradiert. Ebenso erging es zuvor Piotr Trochowski (als Ersatz des Youngsters Tunay Torun) und Jerome Boateng (Rozehnal wurde ihm als Innenverteidiger vorgezogen). Auch Neuzugang Ruud van Nistelrooy, dessen körperliche Züchtigung Toruns in der Halbzeit in Anderlecht nicht bei vielen Spielern auf Verständnis stieß, taugt aufgrund seiner kurzen Mannschaftszugehörigkeit nur bedingt als Führungskraft. Selbst der prädestinierte Leader, der mehrfache Deutsche Meister Zé Roberto (35), ist seit Streitigkeiten vor und während der Winterpause nur noch mit sich und seinem kolportierten Wechsel nach New York beschäftigt.

Trainer ohne Autorität

Bruno Labbadia ließ bei seiner Vorstellung als neuer HSV-Trainer im Sommer 2009 keinen Zweifel an seinen Ambitionen aufkommen. "Wir haben viel vor", sagte der Coach, der auf Nachfrage betonte, dass er "einen genauen Plan habe, den es abzuarbeiten gilt". Von diesem Plan ist allerdings neun Monate später kaum noch etwas zu spüren. Über das zerrüttete Verhältnis zwischen den Profis und dem 44-Jährigen, der sich trotz aller Probleme gegenüber den Medien noch immer aufopferungsvoll vor seine Mannschaft stellt, ist bereits in den vergangenen Tagen genug berichtet worden. Als Höhepunkt darf Rosts unangemeldeter Kinobesuch, Labbadias Kritik vor versammelter Mannschaft und der anschließende Rücktritt des Torhüters aus dem Mannschaftsrat gewertet werden.

Mittlerweile scheinen die meisten Spieler zu ahnen, dass das Ende Labbadias spätestens zum Saisonende besiegelt wird, entsprechend gering ist die Autorität des Trainers. Die Fürsprecher Labbadias im Team sind mittlerweile deutlich in der Minderheit. Bestenfalls bis zum Finale der Europa League am 12. Mai muss die Zweckgemeinschaft noch funktionieren, spätestens danach darf sich das Team wohl über den siebten Trainer im siebten Jahr freuen.

Führungsriege ohne Führung

Der Kampfabstimmung im Sommer, die den Abschied von Sportchef Dietmar Beiersdorfer nach sich zog, folgte der von vielen Seiten prophezeite Misserfolg. Besonders in der Anfangszeit der sich andeutenden Krise schien Labbadia ohne neuen Sportchef allein gelassen. Es fehlte die Schnittstelle zwischen Trainerteam und Vorstand, ein Ansprechpartner, der den Coach auch in der Öffentlichkeit entlastet. Auch die sportliche Kompetenz, für die Beiersdorfer maßgeblich verantwortlich war, fehlte nach dessen Demission. Selbst nachdem Klubboss Bernd Hoffmann seine Kollegin Katja Kraus zum neuen Vorstand Sport bestellte, war eine Verbesserung der Situation nicht zu erkennen. Die Spieler monierten die fehlende Kompetenz des Vorstandes in sportlichen Fragen - und nahmen gut gemeinte Ratschläge gar nicht erst ernst. Und es bleibt fraglich, ob der designierte und zweifellos hoch angesehene Sportchef Urs Siegenthaler, der seine Stärken im Scouting hat, dieses Vakuum füllen kann. Gar nicht mehr beteiligt ist der Aufsichtsrat, der die Entscheidung über Labbadias Zukunft dem Vorstand überlässt. "Das ist kein Thema für den Aufsichtsrat", beantwortete Ratschef Horst Becker, der derzeit im Urlaub in Florida weilt, die Frage nach einer möglichen Entlassung.

Ob ein neuer Trainer den derzeit führungslosen HSV auf Erfolgkurs bringen kann, wird abzuwarten sein. Die Tür für Labbadia scheint jedenfalls geschlossen zu bleiben.