Der Fall Guerrero berührt einen zentralen Punkt des modernen Sportgeschäfts, die Persönlichkeitsentwicklung der Athleten. Sportler sind in dem heutigen Unterhaltungszirkus öffentlich verfügbare Gladiatoren, die auf Schritt und (Fehl-)Tritt von Kameras verfolgt werden, ohne in Schutzräume fliehen zu können. Von ihnen wird weit mehr verlangt als Tore zu schießen oder sie zu verhindern.

Ihr Verhalten soll vorbildlich und über jeden Verdacht mangelnden Anstandes erhaben sein. Für diese Rolle, das ist jenes Dilemma, das oft genug in Fehlverhalten führt, sind sie ebenso unzureichend ausgebildet wie ihre Trainer, die ihr Verständnis von Führung mangels Wissen auf das Vorgeben technischer Standards und taktischer Marschrouten reduzieren.

Paolo Guerrero hat auf die verbale Aggression eines Zuschauers - eines Kunden des HSV! - nicht minder aggressiv reagiert, mit dem Wurf einer Trinkflasche. Das ist kein ungewöhnliches, weil urmenschliches Verhaltensmuster (Angriff-Verteidigung), das zwar nicht zu akzeptieren, dennoch zu verstehen ist. Erinnern wir uns nur an den Kopfstoß des Franzosen Zidane im WM-Finale 2006 gegen Materazzi. Der Italiener hatte Zidane zuvor schwer beleidigt. Guerreros und Zidanes Reaktionen sind jedoch Ausdruck mangelnder Reife. Wer mental stark ist und gelernt hat, sich selbst zu führen und zu kontrollieren, der betrachtet derartige persönliche Angriffe einzig und allein als Problem des Angreifers.

Wie man mit Frust, Stress, Erwartungsdruck und Versagensängsten umgeht, wird niemandem in die Wiege gelegt. Wir müssen es lernen, und wir können es lernen. Ein gut gemeinter Rat nützt da meistens wenig, ein begleitender Prozess viel. Weil der Trainer häufig selbst unter immensem Druck steht, kann wirkungsvolle Hilfe nur von außen kommen. Jedes erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen hat das begriffen. Führungsqualitäten wie Führungskultur sind die Schlüssel unternehmerischen Erfolges, wo sie fehlen, und sie fehlen in vielen Vereinen, stimmen mittelfristig auch die Bilanzen nicht. Im Fußball werden diejenigen immer noch belächelt, die sich Berater holen.

Gut ausgebildete Trainer kennen Lösungswege, auch Sportdirektoren und externe Berater sind als Ansprechpartner geeignet, die Athleten ihres Klubs mit persönlichkeitsstützenden Maßnahmen zu stärken. Ich hege dabei durchaus Sympathie für Jürgen Klinsmanns Ansätze, der seine Profis auch fürs Leben schulen wollte. Sein Fehler war nur, Weiterbildung kollektiv zu verordnen, das war einfach naiv. Ein junger Spieler kann nicht wie ein Urgestein behandelt werden, ein Torun nicht wie ein van Nistelrooy. Das zerstört die Hierarchie. Und die braucht jede Mannschaft, um vor allem die Herausforderungen des Misserfolges meistern zu können. Wenn niemand rechtzeitig in negative Entwicklungen eingreift, geraten gefährliche Strömungen in Fluss, die irgendwann kaum noch zu stoppen sind. Dann sinkt die Halbwertszeit von Aussprachen auf die Zeit bis zum nächsten Spiel.