Den HSV führte der 43-Jährige in die Champions League. Jetzt trainiert er Genclerbirligi Ankara - eine schwierige Mission.

Thomas Doll steht im Mittelkreis, und soeben haben ihm 27 Fußballer reihum die Hand gegeben. Wie das die Eishockeyspieler nach jedem Match tun. "Guten Morgen, Trainer!" Thomas Doll lächelt und strahlt mit der Sonne um die Wette. Er trägt kurze Hosen und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Die Spieler lauschen seinen Begrüßungsworten an diesem Mittwochmorgen um zehn Uhr auf dem weitläufigen Trainingsgelände in Ankara. Einige haben die Hände in den Taschen ihrer Trainingshosen vergraben. "Nehmt bitte die Hände aus den Taschen", sagt Doll. Weil sein türkischer Athletik-Coach den Satz erst übersetzen muss, dauert es ein bisschen, bevor die Spieler reagieren. Doll redet sich warm. "Ihr seht ja aus, als wenn ihr ins Kino gehen wollt. So geht das nicht. Macht ihr das mit den Händen in den Taschen auch zu Hause bei euren Frauen? Dann lassen die euch doch gar nicht mehr rein. Das hat auch was mit Respekt dem anderen gegenüber zu tun. Alles klar? Dann kann's ja losgehen."

Ankara hat 24 Grad und kein Meer weit und breit. Selbst die Menschen, die hier schon länger wohnen, beschreiben die Hauptstadt der Türkei vor allem als eines: langweilig. Die Stadt hat zwei U-Bahn-Linien, eine achtspurige Ringautobahn, trotzdem ständig verstopfte Straßen - und unzählige Moscheen. Und sie wächst täglich, mit immer neuen bunten Hochhäusern an den hügeligen Rändern. Mittlerweile sollen hier fünf Millionen Menschen wohnen, darunter viele Beamte und Verwaltungsangestellte. Sie prägen das Bild einer grauen Regierungsmetropole, die abends abgeschlossen wird, sobald es dunkel ist. Oh wie trist ist Ankara. Trotz einiger moderner Wohnviertel mit westlichen Einkaufszentren und breiten Boulevards hält sich im Volksmund: "Istanbul ist ein Traum, Ankara die Realität." Hier hält man den Ball schön flach.

Was will einer wie Doll hier, der schon als Spieler für das Spektakel zuständig war? Der bei seiner ersten Station als Profitrainer mit dem HSV in die Champions League stürmte? Der danach Borussia Dortmund mit 80.000 Fans im Westfalenstadion im Rücken erst vor dem Abstieg rettete und dann ins Pokalfinale und damit wieder in den internationalen Fußball geführt hat? Der sich mit seiner legendären Wutrede, als er sich bei seinem verbalen Schlussakkord mehrfach "den Arsch ablachte", sozusagen standesgemäß aus der Liga verabschiedet hat?

Statt zahlreichen Journalisten in Deutschland zweimal am Tag und zwischendurch und hinterher bis spät in die Nacht auf dem Handy seine nächsten Schritte zu erklären, sitzt er nun nachmittags am Spielfeldrand und schaut in Ankara einem Trainingsspiel der A-Jugend zu. Weil dort nämlich vier Jugendnationalspieler aus Gambia mitkicken. Doll muss entscheiden, ob eines von den 17-jährigen afrikanischen Talenten bei Genclerbirligi Ankara einen Vertrag erhält. "Genclerbirligi", sagt Doll und grinst. "Nicht zu verwechseln mit Bircher Müsli." Er konnte schon immer auch über sich selbst lachen. Er sagt auch, dass er seinen "Pfirsich wirklich nicht jeden Tag in der Zeitung sehen muss". Aber gleich so ganz ohne Mikrofone und Kameras und Blitzlicht?

Von hundert auf null, zurück auf Los. Die dritte Chance des Thomas Doll findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dafür aber auf steinigem und teilweise vermintem Gelände. Als sein Kapitän Ilhan Eker ihn beim ersten Vieraugengespräch gesagt hat, dass bei Gencler vor allem die Verbindung zwischen Team und Trainer immer super funktioniert hat, hat Doll gefragt: "Wie super? Ihr hattet in den letzten zwei Jahren zwölf Trainer, so super kann die Verbindung nicht gewesen sein."

Weil in Ankara der Wald für Waldläufe und der Strand für Strandläufe fehlen, hat er zwischen die vier Trainingsplätze Kunstrasenstücke verlegen lassen, sodass die Spieler in der Vorbereitung schweißtreibende Langläufe absolvieren konnten, ohne sich ständig im Kreis zu drehen. Hat ein Materialhäuschen für sämtliche Trainingsutensilien aufstellen lassen. "Hier war ja nichts." Hat lange Bänder mit schweren Eisen am Ende anfertigen lassen, die die Spieler jetzt auf der Hälfte der Sprintstrecke abstreifen, damit sie "ein Gefühl dafür kriegen, wie es ist, plötzlich Tempo machen zu können". Hat lebensgroße Spielfiguren aus Stahl herstellen lassen, die man nun in den Rasen stecken und umdribbeln kann.

Dabei ist das Umfeld gar nicht das große Problem. Im modernen, mehrstöckigen Trainingsgebäude gibt es ausreichend Räume und Platz. Büros, Schwimmbad, Sauna, Massageliegen, TV- und Billardzimmer, Fitnessraum und sogar eine Kantine, in der mittags und abends gemeinsam gegessen wird. Doll, der mittlerweile eine großzügige 200-m{+2}-Wohnung gefunden hat und mit eigenem Pkw gekonnt durch Ankara kurvt, hat einen Mannschaftsarzt, Masseure, einen Torwart- und einen Athletiktrainer. Und mit Ralf Zumdick einen Co-Trainer, der einst als Nationalcoach von Ghana mit Stars wie Essien, Appiah und Muntari zusammengearbeitet hat. "Katze" erarbeitet nicht nur Trainingspläne und sichtet Gegner, er ist auch Freund und Regulativ und mit seinen trockenen Sprüchen unabdingbar für das Teamklima.

Nein, das Problem ist der Kader. Türken, Deutschtürken, drei Brasilianer, ein Albaner. Der Torwart ist die Nummer drei in der Nationalelf, dazu in der Abwehr der Bosnier Ivan Radeljic, der 42-mal für Cottbus in der Bundesliga aufgelaufen ist. Der Star ist Kahe. Der Stürmer hat von 2005 bis 2007 für Mönchengladbach in 53 Bundesligaspielen ganze sechs Tore erzielt. Als Doll kam, hatte Kahe zehn Kilo zu viel, und Doll hat ihn gefragt, ob er mit 27 Jahren seine Karriere in Ankara beenden will. Jetzt hat Kahe einen Waschbrettbauch und in sieben Spielen viermal getroffen.

Am Sonntag beim Tabellenführer Fenerbahce Istanbul traf er nicht, das 0:3 gegen die Elf von Christoph Daum war die erste Niederlage. Fenerbahce hatte zuvor noch einen Transfer für acht Millionen Euro getätigt - mehr als der gesamte Kader von Gencler kostet. "Das ist wie Bayern gegen Wismut Aue", hatte Doll vor dem Spiel gesagt.

Was lernt man als Trainer in Ankara? "Geduld", sagt Doll. "Und Demut." Er musste sehr schnell seine Erwartungen sehr weit herunterschrauben, "weil die einfachsten Dinge nicht geklappt haben". Er war unzufrieden, "und das hat die Mannschaft auch gespürt". Aber hätte er jubeln sollen, als einige Spieler im Sommer schlechtere Laktatwerte aufwiesen als er selbst? Doll ist 43 Jahre alt. Also scheuchte er die Truppe über den Platz, und nun kann seine Elf ab der 70. Minute noch zulegen.

Er lässt ein defensives, aber variables 4-1-4-1-System spielen und hat am Anfang so lange das taktische Verschieben trainieren lassen, bis die Spieler schier verzweifelten, weil sie das gewohnte Flanken-, Freistoß- und Torschusstraining vermissten. Nun stehen sie in der Defensive ziemlich kompakt. Er forderte die Spieler immer wieder auf, sich die Bälle härter, genauer und intensiver in die Füße zu spielen und die Ballzirkulation zu erhöhen. Und nun merken sie, "dass es viel angenehmer ist, wenn man selbst die Kugel hat und nicht der Gegner".

Er sorgt mit neuen Trainingseinheiten für Abwechslung, lässt die Akteure auch mal auf anderen Positionen spielen, damit sie "Respekt bekommen für die Aufgaben des Mitspielers".

Er hat vor dem Spiel bei Fenerbahce durchgesetzt, dass das Team nach Istanbul fliegt. Und nicht wie sonst fünf Stunden mit dem Bus anreist. Und dass die schicken Ausgeh-Anzüge fertig sind. Weil es wichtig ist, mit einem geschlossenen und eleganten Auftreten zu signalisieren: "Hallo, hier kommt die Mannschaft aus der Hauptstadt." Von wegen Provinz.

Vielleicht ahnt Doll, dass sich hier in Ankara seine Zukunft entscheidet. Wohin führt sein Weg? In die Kategorie Hitzfeld/Mourinho oder doch eher Röber/Pagelsdorf? Annähernd Weltklasse oder ein für alle Mal Weltenbummler? Ernst zu nehmender Modernist mit Konzept oder schnell zu habender Motivator mit Kurzeinsätzen?

Und überhaupt - wie wird man ein großer Trainer? Und warum trainiert einer den FC Barcelona und der andere Wismut Aue? "Das hat am Ende auch viel mit Glück zu tun", sagt Doll. Dinge wie Arbeit, Leidenschaft, Qualität, Weiterbildung, Entwicklung und das Korrigieren von Fehlern erwähnt er nicht, weil er sie für sich voraussetzt. Er fängt jetzt an, Türkisch zu lernen. Er sagt, dass es natürlich falsch war, in Dortmund in die gleichen Discos zu gehen wie seine Spieler. Das werde es nicht mehr geben. "Ich habe mit den Spielern nichts mehr gemein." Er lässt sich mit "Trainer" und "Sie" anreden. Den Dolly gibt's nicht mehr. Auch nicht für seine Freunde. "Es gibt ja auch keinen 'Hitzi'", sagt Thomas Doll. Da erfindet sich gerade einer als Trainer ganz neu, und Distanz und Disziplin sind die Faktoren, die ihm entscheidend zum Erfolg verhelfen sollen.

Er hat die einjährige Auszeit nach dem freiwilligen Ende beim BVB genutzt, um den Kopf wieder klarzukriegen. Hat auch privat jetzt endlich so etwas wie klare Verhältnisse. Sofern es das denn gibt, wenn man sich von seiner Frau Roberta ("wir waren zwölf Jahre glücklich verheiratet"), mit der er Tochter Olivia hat, trennt. Und sich "nach langem Hin und Her" jetzt doch für das Zusammenleben mit Biljana entschieden hat.

Er hat in Hamburg mit einer Personaltrainerin gearbeitet. Fragt man beim HSV Menschen, die eng an "Dolly" dran waren, warum er letztlich auf Platz 18 gehen musste, hört man oft, dass er so lange gut und erfolgreich war, wie er sich nicht zu viel in seine Arbeit hat reinreden lassen. Fragt man Thomas Doll nach den entscheidenden Ratschlägen der Personaltrainerin, klingt das erst einmal arg nach Auszügen aus einem Handbuch für Führungskräfte. "Ich bin wieder klar. Und wenn ich klar bin, bin ich stark", sagt er. "Es geht darum, die Dinge, die man im Kopf hat, machtvoll umzusetzen. Natürlich ohne dass man dabei über andere hinwegtrampelt." Nicht ständig fragen, ob man auch sympathisch rüberkommt, sondern: Was ist wichtig für die jeweilige Situation?

Er wolle nicht überheblich wirken, aber er glaube nicht nur, dass er überall Erfolg reinbringen kann: "Ich weiß es einfach." Zurzeit freue sich darüber Genclerbirligi, das ihm bereits eine Vertragsverlängerung über die Saison hinaus angeboten hat. "Irgendwann wird sich ein anderer Klub freuen."

Dann geht es wieder raus zum Nachmittagstraining. Die Hütchen sind aufgestellt, die Sprintstrecken abgesteckt. Die Spieler lauschen den Worten des Trainers. Die Hände hat keiner mehr in den Taschen.

Als Spieler war Thomas Doll aktiv für Hansa Rostock, BFC Dynamo, HSV, Lazio Rom, Eintracht Frankfurt und AS Bari. Cheftrainer beim HSV wurde er im Oktober 2004 (Entlassung im Februar 2007). Bei Borussia Dortmund arbeitete er von März 2007 bis Juni 2008.

Eine Galerie mit weiteren Fotos von Thomas Doll in Ankara finden Sie auf www.abendblatt.de