Er hat mehrere Krebsoperationen hinter sich und gibt nicht auf. Die HSV-Fans feiern ihren Kult-Masseur Hermann Rieger bei jedem Spiel.

Alfstedt. Der Weg ist 300 Meter lang, von hohen Bäumen umsäumt und hat am Ende einen kleinen Hügel. Er geht in Alfstedt von der Hauptstraße ab und liegt direkt am Fußballplatz. Dreimal am Tag läuft Hermann Rieger, 69, hier im platten niedersächsischen Land diese kurze Strecke. Am Morgen, am Mittag und abends manchmal sogar zweimal hintereinander. Er kommt bei dem flachen Anstieg ordentlich ins Schnaufen. "Das ist jetzt mein Berg der Leiden", sagt er und lacht übers ganze Gesicht. Jeden Tag feiert er hier mindestens drei kleine Triumphe. Manchmal auch vier.

Früher waren die Berge des Hermann Rieger über 2000 Meter hoch. Sie gehörten zur westlichen Karwendelspitze hoch über Mittenwald, genau am anderen Ende Deutschlands. Schon als Kind ist der kleine Hermann die Berge hochgekraxelt und im Winter auf Skiern hinuntergerast. Er fuhr so gut, dass er als Techniktrainer beim Deutschen Skiverband die Damen und Herren bei den Olympischen Spielen in Sapporo und Innsbruck betreuen durfte. Es war ein weiter Weg vom südlichen Zipfel der Republik in den hohen Norden, von den Alpen bis ans Meer. Und Schuld hatte im Grunde die Mutter.

Als Hermann Rieger nach seiner Weiterbildung zum Physiotherapeuten die Bayern-Spieler massierte und 1978 bei einem Länderspiel in München für den erkrankten DFB-Masseur Erich Deuser einsprang, überredete ihn HSV-Nationalspieler Manfred Kaltz zum Wechsel nach Hamburg. "Mutter, ich könnte nach Hamburg", sagte er zu Hause. "Dann mach das", hat sie geantwortet. "Wieso?" "Da gibt's nette Leute", hat sie gesagt. "Aber du warst doch noch nie in Hamburg, Mutter." "Aber die Gäste aus Hamburg, die nach Mittenwald kommen, sind alle so nett", hat sie gesagt.

Hermann Rieger sagt, dass er seinen Eltern alles zu verdanken hat. "Die waren immer positiv und gerecht." Er sagt auch, dass er in seinem Leben "immer Glück gehabt" habe und alles noch einmal ganz genau so machen würde.

Mit dem Glück ist das so eine Sache. Wer es hat, merkt es oft nicht. Wer es verliert, fängt an zu jammern. Als Hermann Rieger das Glück verlassen hat, geriet der Koloss kurz ins Wanken. Gejammert hat er nie.

"Hermann, the German", haben sie ihn beim HSV genannt. Ein Pfundskerl, eine Frohnatur, eine Seele von Mensch. Ein Ur-Bayer, der in Hamburg zur Kultfigur wurde. Ein Masseur mit eigenem Fanklub und eigenem Song. Das Maskottchen, der Dino, trägt seinen Namen. Hermann Rieger ist wohl gleich nach Uwe Seeler der beliebteste HSVer. "Außer Hermann könnt ihr alle gehen", singen die Fans nach enttäuschenden Spielen. Zuletzt haben sie das oft gesungen. Und vielleicht singen sie es auch am Sonnabend, wenn es gegen Mönchengladbach schiefgehen sollte - Rieger wird jedenfalls im Stadion sein. 26 Jahre hat er Tag und Nacht für den Klub gearbeitet. Ein ziemlicher Gegenentwurf zur aktuellen Spielergeneration.

Hermann ist zwölf Jahre alt, als er mit dem Fußball-Virus infiziert wird. Sein Vater, ein Maurer, kauft in Mittenwald sein erstes Radio. Es ist der 3. Juli 1954, und einen Tag später wird Deutschland in Bern im WM-Endspiel gegen Ungarn spielen. Der Vater schraubt das Radio im Wohnzimmer oben in der Ecke unter die Decke, damit keines der vier Kinder - Hermann hat noch drei kleinere Schwestern - an das Gerät rankommt und womöglich den Sendeknopf verdreht. Gemeinsam verfolgen die Riegers tags darauf den sensationellen 3:2-Sieg der Herberger-Jungs. "Dabei hatte mein Vater null Ahnung vom Fußball", sagt er. Es gibt heute keinen Fußballer in Deutschland, der nicht weiß, wer Hermann Rieger ist.

In Alfstedt, einem 850-Seelen-Dorf bei Bremervörde, von dem aus es nicht einmal 30 Kilometer zur Nordsee sind, klingelt es alle fünf Minuten. "Grüß dich Lothar", spricht Hermann in sein Handy. "Nein, mir geht es wirklich gut. Alles bestens. Ich werde hier sensationell versorgt. Du wolltest nur mal meine Stimme hören? Das ist lieb, Burschi. Und komm vorbei, wenn du Zeit hast."

So geht das pausenlos. Sie rufen alle an, sie kümmern sich, sie sind ernsthaft besorgt, sie haben ihn nicht vergessen. Und vielleicht klammern sie sich auch ein bisschen an die HSV-Legende, die gerade ihren schwersten Kampf gewinnen will. So war es ja immer. Er war die letzte Rettung. Wenn alle Feierabend hatten, hat Hermann noch gearbeitet. Hat Verbände angelegt, Muskeln gelockert, Waden geknetet. "Ich hätte nicht einschlafen können, wenn ich gewusst hätte, dass noch ein Spieler meine Hilfe braucht", sagt er. Manchmal hat er einen verletzten Profi tatsächlich bis zum Wochenende wieder fit gekriegt. Und wenn der dann ein Tor geschossen hatte und ihn nach dem Spiel fest an die Brust drückte, "war das Gänsehaut pur".

Vor sieben Jahren diagnostizierten die Ärzte bei ihm Prostatakrebs. Hermann hörte beim HSV auf, bekam ein gigantisches Abschiedsspiel, wurde im UKE operiert. Im Juli vor einem Jahr starb seine Frau Petra an Lungenkrebs. Er fand sie tot in einer Blutlache in der Küche. Er hat das noch nicht verarbeitet. "Ich bin damals nachts viel spazieren gegangen", sagt er.

Wenig später sticht ihn ein Insekt in die Wade. Hermann nimmt das nicht ernst. Die Folge: Blutvergiftung, Thrombose, Lungenembolie. Im Herbst lautet die Diagnose Lungenkrebs. Mit Chemotherapien wird der Tumor gestoppt. Dann entdecken die Ärzte zwei Tumore im Kopf. Einer liegt so nah an seinem Sehnerv, dass die Mediziner ihn nicht vollständig operativ entfernen können. Sie setzen ihm eine Maske auf, er hat Angst und betet jedes Mal, wenn sie ihm das Drahtgeflecht überstülpen. Er hat immer schon mit Gott gesprochen. Er ist gläubiger Katholik und hat keine Angst vor dem Tod, weil er glaubt, dass danach noch etwas kommt. "Sie pressen dir ein Gitter auf den Kopf und die ganze Luft aus dem Körper raus, alles wird hart und man braucht eine Technik, um weiter ruhig zu atmen", sagt er. Die zehn Behandlungen in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) dauern jeweils 45 Minuten. Die Angst vor der nächsten Bestrahlung wird zum ständigen Begleiter.

Warum er? Warum schlägt das Schicksal so gnadenlos bei einem zu, der hilfsbereit bis zum Gehtnichtmehr ist? Bei einem, der kein "Nein" in seinem Wortschatz mitführt und nie Forderungen gestellt hat. Der nicht nur die HSV-Profis verarztete, sondern auch Boris Becker und die deutschen Tennisstars betreute und Ulrich Tukur nach einem Sturz von der Bühne wieder fit machte. Per Handschlag hat er seinen Vertrag beim HSV jedes Jahr verlängert. Ums Gehalt hat er sich nie gekümmert. "Das hat Ernst Happel gemacht. Der ist zum Vorstand hin und hat gesagt, der Rieger braucht jetzt mal mehr Geld."

Der Trainer-Guru Happel und der Masseur-Gigant Rieger, das passte. Es war die große Zeit des HSV. Damals in den 1980ern, als die Trainingslager nach einem Kriterium ausgesucht wurden. "Sie durften nie weiter als 20 Kilometer von einem Kasino entfernt sein", sagt Rieger. Abends im Spielkasino bewachte er das Geld des Österreichers Happel. Trug es in einem Briefumschlag in seiner Hosentasche. "Ich musste immer die Hand auf die Tasche legen, sonst hat der Ernstl böse geguckt."

Rieger war der Mann für alle Fälle. Unter Branko Zebec wäre ihm fast einmal ein Spieler gestorben, so hart hat der Happel-Vorgänger trainiert. Nach Happel kam Josip Skoblar, und da durften die Spieler schon mittags Rotwein trinken. "Ich sagte, das geht doch nicht, Josip. Aber er meinte, das wäre okay", sagt Rieger. "Und dann flogen beim Essen die Hühnchen durchs Hotel."

Norbert Hadeler, 36, ist Chef des gleichnamigen Gasthofes in Alfstedt. Der freundliche Mann mit dem milden Lächeln kennt diese Geschichten. Er hat vor 16 Jahren "Hermanns treue Riege" gegründet, den heute mit 700 Mitgliedern größten HSV-Fanklub. Jetzt gehört Hermann zu den Hadelers. Holt morgens Brötchen, bringt die Mädchen Lia, 4, Anni, 6, und Stine, 8, zur Kita und zur Schule. Geht mit Morris, 10, zum Fußball und mit Frau Nicole zum Einkaufen. Er sitzt beim Essen mit am Tisch und wird zu jedem Dorffest eingeladen. "Hermann gehört jetzt zur Familie", sagt Norbert Hadeler.

Hermann Rieger sagt, er bleibe jetzt in Alfstedt, bis er wieder richtig fit ist. Vor Kurzem haben die Ärzte einen Schatten auf der Niere entdeckt, aber für eine OP und die Entnahme einer Gewebeprobe ist sein Blut noch zu dünn. Der HSV und der Fanklub haben ihm eine Ferienwohnung organisiert.

Auf dem Tisch im Wohnzimmer steht ein Gerät, und wenn er da reinpustet, geht ein Kügelchen nach oben. Am Anfang ist es immer sofort wieder runtergefallen. Jetzt bleibt die Kugel schon mal eine Minute lang oben, wenn er bläst. "Ich glaube, dass mir ein Schutzengel hilft, und habe das Gefühl, dass ich immer wieder aufstehe", sagt Hermann Rieger. Und außerdem zeigt der Berg der Leiden langsam Wirkung.