Die Hamburgerin Kim Kulig lernte früh Verantwortung zu übernehmen - auch für ihren behinderten Bruder. Jetzt macht sie dies im Nationalteam.

Frankfurt am Main. Kim Kulig gibt es derzeit im Angebot. Für 2,50 Euro liegt sie dutzendfach hinter der Ladentheke der Bäckerei Sehne nahe Böblingen, dekorativ mit einer schwarz-rot-goldenen Papierschleife angerichtet. Frisch aus dem Ofen kommt das Brot mit Sonnenblumenkernen, beworben als "Kim-Kulig-Kruste", ein Verkaufsschlager des Unternehmens. Wer einen der 1000-Gramm-Laibe erwirbt, erhält eine Tüte mit dem lächelnden Konterfei der Nationalspielerin gratis dazu.

Hoch im Kurs stehen diese in der baden-württembergischen Kreisstadt, nicht weit entfernt von ihrem Heimatort Poltringen. Kim Kulig, die 21-Jährige mit dem Lockenkopf, ist beliebt - und das längst über die Landesgrenze hinaus. Mit dem HSV etablierte sie sich in der Bundesliga, wechselt nun zum Primus des Frauenfußballs, dem 1. FFC Frankfurt. 2010 holte sie mit dem U-20-Team den Weltmeistertitel, in diesem Jahr soll sie im zentralen Mittelfeld der A-Nationalmannschaft für Stabilität sorgen. Auch heute wieder, beim letzten Testspiel der Vorbereitung gegen Norwegen in Mainz (ab 20.15 Uhr im ZDF).

Eine wichtige Position sei das schon, die ihr die Bundestrainerin Silvia Neid da während der Heim-WM anvertraue. "Ich trage viel Verantwortung", sagt sie mit einer Lässigkeit, die überzeugend, aber nicht überheblich klingt. Angst vor dem Druck, zu versagen, hat sie nicht. Den Beweis dafür trägt Kim Kulig immer bei sich, in Form eines Tattoos. "Mut und Leidenschaft", in Arabisch geschrieben, ziert ihren linken Unterarm. Es ist ihr persönliches Motto für dieses Turnier, für ihr Leben.

Ganz nah ist Kim Kulig jetzt jenem Traum aus Kindheitstagen, als noch Poster des Idols Luís Figo ihre Zimmerwände bedeckten und sie auf dem Grundschulhof mit Freunden kickte. Nur so, zum Spaß, war sie doch eigentlich mit Leichtathletik und BMX-Fahren ausgelastet. Die Eltern wollten nicht, dass sie sich zu viel zumutet, verboten ihr deshalb erst, in einem Verein zu trainieren. An der mangelnden Fußballleidenschaft im Hause Kulig lag es nicht. "Mein Vater ist verrückt danach", erzählt sie. Kim Kulig fand sich nicht mit dem Verbot ab, schlich sich heimlich zum Training des SV Poltringen.

Das zierliche Mädchen mit den kurzen Haaren, von der österreichischen Mutter Anke gern ins Dirndl gesteckt, übte sich im Dribbling mit den Jungs. Genoss das Miteinander innerhalb der Mannschaft, das Wir-Gefühl. "Ich hatte einfach genug von den Einzelsportarten. Nur für sich kämpfen, das bin ich nicht. Fußball war da viel mehr meins", sagt sie. Kim Kulig ist keine, die ständig in der ersten Reihe stehen muss. Die ihren Willen gegen Widerstand durchpresst. Ziele, sagt sie, sind nur in einer Gemeinschaft zu erreichen. Daran glaubt sie, weil sie mit dieser Erfahrung groß geworden ist, auf und abseits des Platzes. Mit drei Schwestern und zwei Brüdern muss man Kompromisse schließen. "Das hat mich geprägt", erzählt sie. "Es gibt halt noch andere Menschen mit anderen Bedürfnissen, da lernt man, Rücksicht zu nehmen."

Besonders ihr Bruder Marco, 23 Jahre alt, zeigt ihr, wie wichtig diese Werte sind. Er ist mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen. Bei ihren ersten Spielen des VfL Sindelfingen war er meist dabei, später, als sie nach Hamburg zog und mit der Nationalmannschaft reiste, wurde es schwerer für ihn. Doch trotz aller räumlichen Distanz, die Bindung zu der Familie hat für sie oberste Priorität. Anfangs hatte sie deshalb Bedenken, aus ihrem kleinen Dorf bei Tübingen in den Norden zu ziehen, in eine Großstadt, in der sie allein auf sich gestellt war. In Hamburg, sagt Kim Kulig, ist sie erwachsen geworden.

Selbstbewusster, wie es ihr Trainer beim HSV, Achim Feifel, formuliert. "Kim ist äußerst diszipliniert, arbeitet hart an sich", sagt er über seinen langjährigen Schützling. So absolvierte sie quasi nebenbei ihr Abitur am Gymnasium Heidberg, einer offiziellen Eliteschule des Fußballs. So möchte sie auch ihr Studium des Sportmanagements ab September meistern. Kim, sagt Achim Feifel, habe stets eine klare Zielvorstellung - und verwirklicht diese in der Regel, ohne zu verkrampfen. "Sie ist ein durchweg positiver Mensch. Ihr gelingt die Gratwanderung zwischen Ehrgeiz und Lockerheit. Dadurch war ihre Akzeptanz in der Mannschaft groß."

Ein ähnliches Bild bietet sich in diesen Tagen, wenn man "Kimi Coolig", ein Spitzname ihres Managers Siegfried Dietrich, im Trainingslager der DFB-Frauen in Neu-Isenburg beobachtet. Sie steht gern im Kreis ihrer Mitspielerinnen, nicht außen vor. Die Hände hat sie entspannt in den Hosentaschen, den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht. Selbst wenn sie nervös ist, vor diesem für sie und dem Team so wichtigen Wettbewerb im eigenen Land, sie lässt es sich nicht anmerken. Geduldig beantwortet sie die immer gleichen Fragen der Journalisten, schwärmt dabei in einem Moment fast kindlich-naiv von der Attraktivität Mario Gomez', um im nächsten souverän Taktiken zu erläutern. Das macht sie interessant für das Publikum - und damit für Firmen.

Momentan, sagt sie, könne sie von ihrem Beruf leben. Denn neben dem Bäcker aus der Heimat wurde sie von einer Shampoomarke und einem Sportartikelhersteller als Werbefigur verpflichtet. "Kim", prognostiziert Manager Dietrich, "hat das Zeug, für ihren Sport etwas zu bewegen." Bisher ist ihr dies eindrucksvoll gelungen.