Der „heilige Iker“ und „Jesus“ retten Titelverteidiger Spanien beim 1:0 gegen Kroatien ins EM-Viertelfinale. Doch nicht nur Joachim Löw sieht: Der Weltmeister leidet und ist zu schlagen.

Danzig. Am Tag danach herrscht eine ganz merkwürdige Stimmung beim Welt- und Europameister. Trainer, Spieler und selbst die Journalisten scheinen bei aller Erleichterung über den Viertelfinaleinzug auf ganz merkwürdige Weise auch von Zweifeln befallen zu sein. Spaniens Nationalmannschaft hat bei der Europameisterschaft sogar als Gruppenerster die Runde der besten Acht erreicht. Trotzdem ist jetzt nicht einfach alles leicht und gut.

Die früher erlebte Dominanz ist der Seleccion zumindest zu Teilen abhandengekommen, und diese Zweifel an ihrem eigenen Tun scheinen die Welt- und Europameister selbst am meisten zu spüren. Dass Rekordschütze David Villa die EM wegen der Folgen eines Ende vergangenen Jahres erlittenen Beinbruchs verpasste, macht die Dinge nicht einfacher. „Wir sind zurzeit nicht übermäßig selbstbewusst“, räumte Nationaltrainer Vicente del Bosque am Dienstag ein. Die Kritik in der Heimat hat das Team in Polen erreicht, das Wanken des hoch gehandelten Favoriten im Spiel gegen Kroatien hat Fans wie Gegner beeindruckt. Und sogar er sei zwischenzeitlich „pessimistisch“ gewesen, das Viertelfinale zu erreichen, sagte del Bosque.

Als del Bosque mit dicken Schweißperlen auf seiner kahlen Stirn noch von den Journalisten in die Mangel genommen wurde, dürfte Joachim Löw bereits zufrieden auf dem Rückweg ins deutsche Team-Hotel gewesen sein. „Die Wahrheit ist“, sagte der müde Weltmeister-Trainer del Bosque, „das war insgesamt kein gutes Spiel von uns, und das sollte uns Sorgen machen.“ Löw, Bundestrainer im Spionage-Einsatz, wird die Zitterpartie der taumelnden Spanier im letzten EM-Gruppenspiel gegen Kroatien (1:0) ganz ähnlich gesehen haben.

Unter den Augen Löws, der mit dem DFB-Team frühestens im Finale auf den Welt- und Europameister treffen könnte, präsentierte sich Spanien defensiv anfällig, offensiv überraschend hilflos, insgesamt fahrlässig. Die Erkenntnis des Abends: Die Übermannschaft der vergangenen Jahre ist schlagbar.

Von einer Wachablösung in der Favoritenfrage wollte der Bundestrainer am Dienstag aber nichts wissen. „Für mich ist Spanien nach wie vor der absolute Topfavorit“, sagte Löw, und erklärte auch, warum: „Sie sind immer noch weltklasse in der Ballkombination. Aber es ist schwierig, wenn sich eine Mannschaft wie Kroatien mit neun Spielern hinter den Ball stellt und versucht, jede Aktion zu zerstören.“

Auch Del Bosque meldete sich am Tag nach dem Zittersieg noch einmal zu Wort und räumte ein, dass man „nicht extrem optimistisch“ sei. Gleichzeitig forderte er, die Dinge mit mehr Augenmaß zu betrachten, und verwies auf die Schwierigkeiten anderer Favoriten: „Auch Deutschland war gegen Dänemark nahe dran, auszuscheiden.“

Kroatiens scheidender Trainer Slaven Bilic hatte nach dem bitteren Vorrunden-Aus seines Teams behauptet: „Es gibt andere Mannschaften, die haben vielleicht nicht ganz so viel Qualität, sind aber hungriger als Spanien.“

Dass die Iberer nach 90 bangen Minuten überhaupt ins Viertelfinale stolperten, wo sie am Samstag (20.45 Uhr) in Donezk auf England, Frankreich oder die Ukraine treffen (del Bosque: „Ich habe da keine Präferenz“), hatten sie zwei Protagonisten zu verdanken: dem „heiligen Iker“ und Jesus.

Torwart Iker Casillas hielt Spanien bei einer Kopfballchance des früheren Schalkers Ivan Rakitic in der 58. Minute mit einer Glanzparade im Spiel. Der eingewechselte Jesus Navas traf nach einer Traumkombination über den ebenfalls eingewechselten Cesc Fabregas und Andres Iniesta in der 88. Minute zum äußerst glücklichen 1:0.

„Es war ein Geduldsspiel“, sagte Casillas in der stickigen Mixed Zone, während sich im Hintergrund ein Gewitter zusammenbraute: „Es war eine sehr schwierige Partie, weil wir sehr nervös waren. Das war nicht leicht.“ Ähnlich sahen das auch seine Teamkollegen, die einräumten, viel durchgemacht zu haben. „Wir haben gelitten!“, sagte Iniesta, der zum Spieler des Spiels gewählt wurde: „Es war eine harte Partie, schwierig, aber wir haben bis zum Schluss gekämpft und den Sieg geholt.“

Bis zum 1:0 durch Navas hätte ein Tor der Kroaten aufgrund der gleichzeitigen Führung Italiens gegen Irland den Vorrunden-K.o. für Spanien bedeutet. Und bei einem Foul von Sergio Ramos an Mario Mandzukic (27.) hätte der nicht immer souveräne Schiedsrichter Wolfgang Stark (Ergolding) auf Elfmeter entscheiden müssen - ein grober Fehler.

„Er ist blind. Der kommt doch aus Deutschland, oder? Das war richtig schlecht“, sagte Bayern-Profi Daniel Pranjic dem Sport-Informations-Dienst (SID). Das 0:1 sei ein Abseitstreffer gewesen, das Foul von Ramos an Mandzukic ein klarer Elfmeter. So aber waren die Kroaten eben nur „nah dran“, wie der zu Lokomotive Moskau wechselnde Bilic sagte: „Wir hätten Spanien in dieser Nacht stoppen können. Aber Casillas war für sie der Held.“

Derjenige, der den spanischen Mannschaftskapitän zum Helden gemacht hatte, sparte nicht mit Selbstkritik. „Ich hätte Casillas am liebsten in den Arsch getreten, mich selbst geohrfeigt und sofort mit meinem Vater Kopfball trainiert“, sagte Rakitic.

Statistik:

Kroatien: Pletikosa/FK Rostov (33 Jahre/94 Länderspiele) - Vida/Dinamo Zagreb (23/11) ab 66. Jelavic/FC Everton (26/22), Corluka/Bayer Leverkusen (26/57), Schildenfeld/Eintracht Frankfurt (27/15), Strinic/Dnjpr Dnjpropetrowsk (24/20) - Vukojevic/Dynamo Kiew (28/41) ab 81. Eduardo/Schachtjor Donezk (29/50), Rakitic/FC Sevilla (24/44) - Srna/Schachtjor Donezk (30/94), Modric/Tottenham Hotspur (26/57), Pranjic/Bayern München (30/45) ab 66. Perisic/Borussia Dortmund (23/13) - Mandzukic/VfL Wolfsburg (26/32). - Trainer: Bilic

Spanien: Casillas/Real Madrid (30/134) - Arbeloa/Real Madrid (29/38), Pique/FC Barcelona (25/42), Ramos/Real Madrid (26/89), Alba/FC Valencia (23/8) - Xavi/FC Barcelona (32/112) ab 89. Negredo/FC Sevilla (26/11), Busquets/FC Barcelona (23/42), Alonso/Real Madrid (30/99) - Silva/Manchester City (26/61) ab 73. Fabregas/FC Barcelona (25/66), Torres/FC Chelsea (28/96) ab 61. Navas/FC Sevilla (26/19), Iniesta/FC Barcelona (28/67). - Trainer: del Bosque

Schiedsrichter: Wolfgang Stark (Ergolding)

Tor: 0:1 Navas (88.)

Zuschauer: 39.076

Beste Spieler: Modric, Schildenfeld - Casillas, Xavi

Gelbe Karten: Corluka, Srna, Strinic, Mandzukic, Jelavic, Rakitic -

Torschüsse: 7:15

Ecken: 4:11

Ballbesitz: 33:67 Prozent

Mit Material von dapd und sid