England glaubt, mit Joe Hart endlich wieder einen sicheren Torhüter zu haben. Heute (18 Uhr) will und muss er es gegen Frankreich beweisen.

Krakau. Ist er ein Stripper? Oder ein Techno-Jünger, der sich Pillen eingeworfen hat und in seiner eigenen Welt ist? Der Mann in dem Video trägt eine weiße Radlerhose, nicht nur die Oberschenkel zeichnen sich ab. Er spannt seine Bauchmuskeln an und ballt die Fäuste, dann rennt er wie wild geworden durch ein Hotelzimmer. Plötzlich legt der Blondschopf die Arme an und springt mit geschlossenen Augen auf und ab. Der Mann ist kein Stripper, kein Techno-Jünger, kein Hilfsbedürftiger - er ist der englische Nationaltorwart. Er ist in diesen Tagen einer der wichtigsten Männer Großbritanniens. Name: Joe Hart. Alter: 25. Form: hervorragend. Charakter: laut Mitspielern positiv verrückt. Mission: der ersatzgeschwächten Nationalmannschaft heute (18 Uhr/ZDF und im Liveticker auf abendblatt.de) in Donezk ihren EM-Auftakt gegen Frankreich retten.

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Das Video ist in England Kult, auf dem Internetportal YouTube haben es eine halbe Million Menschen unter dem Suchbegriff "Joe Hart dance" gesucht und angeklickt. Aufgenommen haben es Mitspieler von Hart auf einer Reise der U21-Nationalmannschaft, ihr Lachen ist im Hintergrund zu hören. Was war da mit Hart los? Er grinst. "Das ist das, was Red Bull mit dir macht", sagt er. Tatsächlich war wohl kein Energiegetränk schuld, es war einfach Spaß. Joe Hart mag es durchzudrehen. Normal ist ihm zu langweilig. Im Training setzt er schon mal zum Fallrückzieher an, ein besonders sehenswerter hat es ebenfalls zu YouTube geschafft. Fußballer sagen, Torhüter und Linksaußen sind nicht ganz dicht. Und die unnormalen Torhüter sind meist die besten.

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Die englischen Torhüter hingegen fielen in den vergangenen Jahren meist nur mit schweren Fehlern auf. Und kosteten die Mannschaft den Traum von einem erfolgreichen Turnier: David Seaman bei der WM 2002, David James in der Qualifikation für die WM 2006, Scott Carson und Paul Robinson in der Qualifikation für die EM 2008. Die Engländer verpassten die Teilnahme an letzterem Turnier. Bei Hart - so hoffen die Briten - wird alles anders sein.

Erstmals seit Jahren haben die Engländer wieder einen starken Rückhalt. Eine echte Nummer eins, hinter der die Nation steht. "Joe Hart ist etwas Besonderes. Für mich gehört er zu den zehn besten Torhütern der Welt", sagt Peter Schmeichel. Die dänische Torwartlegende gewann 1992 im EM-Finale gegen Deutschland und 1999 mit Manchester United das Endspiel der Champions League gegen den FC Bayern München. Er verfolgt den englischen Fußball seit Jahrzehnten.

"Wenn du als englischer Torwart bei einem Turnier einen Fehler machst, hauen sie auf dich drauf. Das ist allen passiert, zuletzt Robert Green und David James. Diesmal hat England kein Torwartproblem", so Schmeichel. Hart ist der Hoffnungsträger der "Three Lions". Topstürmer Wayne Rooney für die ersten zwei Spiele gesperrt, viele verletzte Leistungsträger, die Erwartungen für das Turnier so niedrig wie lange nicht: In der Not ist eine Nummer eins umso wichtiger - und die britische strotzt vor Selbstvertrauen.

Hart hat mit Manchester City gerade die Meisterschaft gewonnen. In 38 Spielen hat er lediglich 29 Gegentore zugelassen, der beste Wert der Premier League. Seit zwei Jahren hat er keine Partie verpasst. Von 18 Länderspielen, in denen Hart im Tor stand, gewann England 13. Sein geschätzter Marktwert beträgt 21 Millionen Euro. "Joe Hart wird entscheidend für uns sein. Er zeigt die Rettungstaten, die ein normaler Keeper nicht zeigt", sagt Englands Trainer Roy Hodgson.

Unter dessen Vorgänger Fabio Capello debütierte Hart 2008 in der Nationalmannschaft. Bei der WM 2010 gehörte er zum Kader, Capello stellte ihn aber nicht auf, obwohl viele Experten den jungen Hart schon damals als den besseren Schlussmann bezeichneten. Er war damals ähnlich aufstrebend wie heute Deutschlands Nummer drei, Ron-Robert Zieler von Hannover 96. Doch Capello setzte auf Robert Green - der gleich im ersten Spiel gegen die USA einen leichten Schuss zum 1:1-Endstand ins Netz trudeln ließ. England hatte zwischen den Pfosten wieder mal alles falsch gemacht. Jetzt ist Harts Zeit gekommen. Endlich, sagen viele.

Natürlich ist auch er nicht perfekt, Hart hat keine Turniererfahrung. Ein Vorteil, sagen einige. So muss er nicht an das Scheitern aus der Vergangenheit zurückdenken. "Ich liebe diese Situation. Als Nummer eins in eine EM zu gehen habe ich mir niemals erträumt. Das ist aufregend", sagt er. Als Jugendlicher spielte er für die U-Nationalmannschaften und hatte zwei Vorbilder: Schmeichel und Seaman, der ihn bei der EM 1996 beeindruckt habe. Damals schied England im Elfmeterschießen des Halbfinales gegen Deutschland aus.

Der englische Verband hat den Rückflug aus Polen für den 19. Juni, den Tag nach dem letzten Gruppenspiel, gebucht. Das ist aber nur eine obligatorische Buchung. Mit so einem ausgeflippten Torhüter wie Hart könnten Dinge passieren, die keiner für möglich hält.

Frankreich: 1 Lloris - 2 Debuchy, 4 Rami, 5 Mexès, 3 Evra - 18 Diarra - 6 Cabaye, 15 Malouda - 11 Nasri, 7 Ribéry - 10 Benzema. England: 1 Hart - 2 Johnson, 15 Lescott, 6 Terry, 3 Cole - 16 Milner, 17 Parker, 4 Gerrard, 7 Walcott - 11 Young - 22 Welbeck. Schiedsrichter: Rizzoli (Italien).