Hamburg. So eine EM ist wie Ferien. Alles ist aufregend, lustiger und anders als sonst. Ein Nachbar fällt fast vom Balkon bei dem Versuch, zwei Deutschlandfahnen an die Regenrinne zu schrauben. Der ohrenkranke Beagle von nebenan hat eine schwarz-rot-gelb gefärbte Halskrause und sieht nach dem ersten Regen schlammfarben aus. Mitten in der Nacht nach dem Türkeispiel stehen sechs Männer in grünen Froschkostümen unterm Balkon und singen: "Tunnelll, Tunnelll, wenn du reinfährst, ist es dunkelll, wenn du rausfährst, ist es helll..."

EM-Wochen haben ihren eigenen Takt: Termine werden nach Spielplänen gestaltet - "Nee, Donnerstag ist doch Portugal!" -, von Dienstplänen ganz zu schweigen ("Die Frau Knaben-Kracke guckt nicht Fußball, da kann sie doch den Spätdienst..."). Niemand wundert sich über lustige Hüte, Kundenberater in Ballack-Shirts oder Kassiererinnen mit schwarz-rot-goldenen Bäckchen.

Individualisten suchen plötzlich suchtartig Gemeinschaftserlebnisse. "Sind Sie etwa für Spanien?", fragt mich eine Wildfremde beim Public Viewing in der Lieblingsbar. Wir diskutieren am Tisch, warum es eigentlich in Hamburg keine Jens-Lehmann-Schule gibt. Bleibt irgendein Wahnsinniger vor dem Bildschirm stehen, schallt es aus 20 Kehlen: "Du bist kein Glaser!!!" Alles wird öffentlich durchgekaut: Kloses Grätsche, Ballacks Wade, Torres' Frisur, Unglückswurm Bela Rethy und der Bildausfall. Ein Gast mit arabischem Migrationshintergrund muss "Schweinsteiger" üben - der Name ist ja schon phonetisch der Albtraum des Auslands. Bis türkische, japanische oder spanische Moderatoren mit den Sch-Lauten fertig sind, ist Schweini schon beim anderen Tor...

Und jetzt? Man fühlt sich wie in der EM-Reha-Phase: ein bisschen traurig, ein bisschen erschöpft. Schade, dass uns der Alltag wiederhat. Zum Trost: Bald sind Ferien. Dann kommt Olympia. Und dann bald Weihnachten. Gut, wenn das Leben solche Höhepunkte hat.