Montreal/Moskau. Die Sportmacht soll für vier Jahre von allen Titelkämpfen verbannt werden. Auch die Ausrichtung von Topevents steht infrage.

Die Vorwürfe wiegen schwer, die Sanktionen werden immer konkreter, doch die mächtigen Fußballfunktionäre der Uefa und der Fifa halten sich noch bedeckt. Dabei droht dem Weltsport nach den nächsten russischen Betrügereien ein Beben mit seismischen Wellen, die sich über die Olympischen Spiele in Tokio ausbreiten könnten und das Potenzial haben, auch „König Fußball“ zu erschüttern.

Sollte die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada am 9. Dezember in Paris die Sanktionen gegen Russland beschließen, die sein zuständiges Ermittlungskomitee am Montag empfohlen hat, verliert nicht nur die russische Anti-Doping-Agentur Rusada ihre Zulassung. Die gesamte Nation würde ein Bann treffen. Russland soll demnach für vier Jahre als Veranstalter von der Sportlandkarte gestrichen werden. Zudem dürften die Athleten bei Welt- und Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen nicht unter der russischen Fahne starten dürfen.

Damit wären die Olympia-Teilnahme, der EM-Start, aber auch die Ausrichtung internationaler Topevents bedroht. Drei Gruppenspiele und ein Viertelfinale der EM 2020 sind in St. Petersburg eingeplant, zu den möglichen Konsequenzen eines russischen Komplettausschlusses wollte sich die Europäische Fußball-Union (Uefa) jedoch nicht äußern. „Zum jetzigen Zeitpunkt möchte die Uefa das nicht kommentieren“, ließ der Verband auf SID-Anfrage wissen. Der Weltverband Fifa will die Überlegungen der Wada-Exekutive abwarten, bis er „eine mögliche wichtige Entscheidung trifft“, die zunächst die Qualifikation zur WM 2022 in Katar betrifft.

Bei Olympia-Bann droht Hängepartie

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) kündigte am Dienstag an, auch die härtesten Sanktionen gegen die Verantwortlichen möglicher Manipulationen zu unterstützen. Den Russen wird vorgeworfen, Daten aus dem Moskauer Dopingkontrolllabor gefälscht zu haben. Sollte die Nation gesperrt werden, wird der Gang vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS und damit eine Hängepartie wie 2016 erwartet, als Russland durch den McLaren-Report institutionelles Doping nachgewiesen worden war, aber noch während der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro um die Deutungshoheit gestritten wurde.

„Die Zeit bis zu den sportlichen Großereignissen 2020 ist sehr kurz. Ich befürchte, dass es ein knappes Hickhack geben wird, und das ist für den Sport ganz schlecht“, sagte Sportrechtsexperte Michael Lehner. Noch nach der Eröffnungsfeier der Spiele 2016 herrschte Verwirrung über die tatsächliche Größe des russischen Teams, ein denkbar ungünstiges Szenario, das sich wiederholen könnte. Denn: „Die Rechtslage ist so wie damals“, sagt Lehner.

Kritik hatte es bereits an der verfrühten Wiederaufnahme der Rusada im vergangenen Jahr gegeben, nun zeigt sich, dass der geforderte Mentalitätswandel im russischen Sport nicht stattgefunden hat. Es ist selbst für Rusada-Chef Juri Ganus „eine neue Phase von Russlands Dopingkrise“. Er hofft auf Wladimir Putin, der dabei helfen soll, die sportliche Führung im Riesenreich neu aufzustellen.

Russland sieht sich zu Unrecht am Pranger

Welchen sportpolitischen Einfluss der Staatspräsident besitzt, hat er immer wieder bewiesen und dazu genutzt, Russland nach außen als die Sport-Großmacht erscheinen zu lassen, als die sich das Land gerne selbst sieht. Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, dem Höhepunkt des russischen Dopingskandals, und die Fußball-WM 2018 waren auch Putins Projekte. Der Umgang der russischen Organisatoren und der Fußball-Funktionäre mit dem Skandal vor der WM könnte sich vor der EM wiederholen.

Schon damals war die Rusada suspendiert, Auswirkungen auf die WM hatte dies kaum. Ein Bauernopfer – Organisationschef Witali Mutko verlor alle seine Ämter im Sport –, und das bunte Spektakel ging reibungslos über die Bühne. Das Aussitzen großer Krisen hat im Weltsport Tradition.

Russland selbst sieht sich wegen der drohenden neuen Wada-Sanktionen international an den Pranger gestellt. „Manche möchten Russland in eine Verteidigungshaltung und Lage eines Beschuldigten drängen – in allem und überall“, sagte Außenminister Sergej Lawrow der Agentur Interfax zufolge. Es könne nicht sein, dass Russland immer schuld sei und gegen alles verstoße „und alle anderen nach den Regeln leben, die sie selbst aufgeschrieben haben“. Es werde nicht mehr nachgefragt, sondern nur noch festgelegt, kritisierte Lawrow. Er forderte einen ehrlichen Dialog auf Augenhöhe.