Saint-Denis. Abwehrchef Jerome Boateng kritisiert nach dem 0:0 von Deutschland gegen Polen fehlende Ideen und Durchschlagskraft in der Offensive.

Über Nachbarn, gute und schlechte, wurde in den vergangenen Wochen in Fußball-Deutschland mehr als genug geredet. Und trotzdem ist eine tadellose Nachbarschaft auch in diesen Tagen ein wichtiges Thema: An diesem Freitag jährt sich der deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag zum 25. Mal. Ob auch der 16. Juni in die deutsch-polnische Nachbarschaftsgeschichte eingehen wird, darf nach den höhepunktarmen 94 Minuten im Pariser Vorort Saint-Denis allerdings bezweifelt werden. Am Ende trennten sich die DFB-Auswahl und Polen in einem recht schwachen Spiel mit 0:0.

„Wir standen in der Abwehr besser als beim 2:0 gegen die Ukraine, aber im letzten Drittel müssen wir uns verbessern, auch mal eine Eins-gegen-eins-Situation gewinnen, sonst werden wir bei dieser EM nicht weit kommen. Wir können froh sein, dass wir 0:0 gespielt haben“, gab sich Abwehrchef Jerome Boateng nach der Partie selbstkritisch. Der Münchner wurde nicht nur deswegen zu Recht zum Spieler des Abends gewählt.

Beim Aufeinandertreffen der beiden Fußballnachbarn ging es wie erwartet von der ersten Minute an ordentlich zur Sache. Sieben Fouls in der ersten halben Stunde und zwei Gelbe Karten für Sami Khedira und Mesut Özil unterstrichen die Behauptung, die Bundestrainer Joachim Löw vor dem Spitzenspiel der Gruppe C gebetsmühlenartig wiederholt hatte: Diese polnische Mannschaft um Superstar Robert Lewandowski ist ein ganz anderes Kaliber als zuletzt die Ukraine.

Hummels meldete sich fit

Anders als in Lille, wo „Die Mannschaft“ am Sonntag mit einem unspektakulären 2:0 in diese Europameisterschaft gestartet war, konnte Löw diesmal auf den lange Zeit angeschlagenen Mats Hummels an der Seite von Boateng zurückreifen. Für den Innenverteidiger, der sich erst am Vorabend des Spiels uneingeschränkt einsatzbereit meldete, musste erwartungsgemäß Torschütze Shkodran Mustafi auf der Bank Platz nehmen. Ansonsten vertraute Löw, diesmal im schwarzen Pullover statt im grauen Shirt, dazu ein schwarz-rot-goldenes Glücksbändchen um das linke Handgelenk, seinem Auftaktteam.

Einzelkritik: Türsteher Boateng, Retter Hummels

Das neue Outfit brachte dem Fußballlehrer ebenso wenig Glück wie der Handgelenkstalisman. Nach zehn Minuten notierten die Statistiker zwar ein Ballbesitz von 80:20 für das deutsche Team, ohne dass die Offensive um Mario Götze davon profitieren konnte. Immerhin: Auch Götzes Noch-Vereinskollege Lewandowski tat sich im Duell mit Hummels und Boateng auf der Gegenseite schwer. Der mit 13 Treffern erfolgreichste Torschütze der EM-Qualifikation, der in vergangenen Duellen schon siebenmal Manuel Neuer bezwingen konnte, hatte nach dem ersten Durchgang genauso wenige Torschüsse abgegeben wie sein ebenfalls hochgelobter Sturmpartner Arkadiusz Milik: keinen.

Zumindest Letztgenannter, der einst für Bayer Leverkusen und den FC Augsburg auf Torjagd ging, schien in der Halbzeitpause Besserung gelobt zu haben. So dauerte es nach dem Wiederanpfiff von Schiedsrichter Björn Kuipers, dem einzigen Niederländer bei dieser EM, handgestoppte 20 Sekunden, ehe Milik für die bis dahin größte Aufregung im deutschen Strafraum sorgte. Sein Kopfball landete aber glücklicherweise nur in unmittelbarer Nachbarschaft zum linken Außenpfosten statt im Tor.

Fans forderten Gomez-Einwechslung

Wer nun aber dachte, dass der Weltmeister diese erste Großchance der Bialo-Czerwoni (der Weiß-Roten) als Weckruf verstand, der irrte. Besonders die offensive Dreierreihe mit Julian Draxler, Mesut Özil und Thomas Müller konnte sich bei Ballbesitz gegen die kompakt und engagiert verteidigenden Polen kaum in Szene setzen. Für den erneut enttäuschenden Götze forderten die mitgereisten Deutschland-Fans nach einer Stunde lautstark den Einsatz von Torjäger Mario Gómez.

Nach 66 Minuten reagierte Löw. Doch statt Gómez brachte der Nationaltrainer, der gegen die Ukraine nur zweimal spät gewechselt hatte, André Schürrle für Götze. Das unbefriedigende Arbeitsprotokoll des ausgewechselten Münchners: Gerade mal 34 Ballkontakte, 21 Prozent gewonnene Zweikämpfe und auch nur zwei mehr oder eher weniger zielführende Torschüsse.

Es darf als typische Geschichte des Fußballs bezeichnet werden, dass mit Götze auf der einen und Lewandowski auf der anderen Seite ausgerechnet die beiden Offensivspieler kaum zur Geltung kamen, über die vor der Partie am meisten berichtet worden war. Bestätigt wurde dagegen lediglich eine ganz andere Geschichte: der Fluch der zweiten Spiele. So konnte Deutschland unter Löw mit Ausnahme der EM vor vier Jahren nie das zweite Gruppenspiel eines Turniers gewinnen.

Unentschieden reicht fürs Weiterkommen

Die gute Nachricht zum Schluss: Weitergekommen ist Deutschland trotzdem immer. Am kommenden Dienstag (18 Uhr) heißt der nächste Gegner: Nordirland. Dann reicht schon ein Unentschieden für den erwarteten Einzug ins Achtelfinale. Parallel dazu trifft Polen auf die Ukraine, die als erste Mannschaft bei dieser EM bereits ausgeschieden ist.

Die Statistik

Deutschland: Neuer – Höwedes, J. Boateng, Hummels, Hector – Khedira, Kroos – Thomas Müller, Özil, Draxler (72. Gómez) – Götze (66. Schürrle)

Polen: Fabianski – Piszczek, Glik, Pazdan, Jedrzejczyk – Krychowiak, Maczynski (76. Jodlowiec) – Blaszczykowski (80. Kapustka), Grosicki (87. Peszko) – Milik, Lewandowski.

Schiedsrichter: Björn Kuipers (Niederlande)

Zuschauer: 73.648

Gelbe Karten: Khedira, Özil, Boateng - Maczynski, Grosicki

Torschüsse: 15:7

Ecken: 8:2

Ballbesitz: 63:37 %