Évian-les-Bains. Bayern-Star über die Titelchancen der Nationalmannschaft, seinen Rollenwechsel vom Spaßvogel zum Führungsspieler und Kuscheln im Hotel.

Thomas Müller ist gut gelaunt. Wobei man das nicht genau wissen kann. Der 26-Jährige ist witzig wie immer, als er am Donnerstag zum Interview mit mehreren Zeitungen kommt. Aber er wirkt auch wie einer, dem es nun stärker darum geht, dass hinter dem Humor ein echter Führungsspieler der deutschen Nationalmannschaft herangewachsen ist. An diesem Freitag beginnt die EM. Vor dem ersten Gruppenspiel des DFB-Teams gegen die Ukraine am Sonntag (21 Uhr/ARD) spricht Müller über veränderte Teamhierarchien, neue Freistoßtricks und seine Strategie gegen die Terrorangst.

Herr Müller, es heißt, Sie seien ein sehr guter Billardspieler.

Thomas Müller: Wer hat denn das ausgeplaudert? (lacht) Bei allem, was mit Ball zu tun hat, war ich schon immer engagiert, motiviert und auch talentiert. Aber ich habe noch Übungsbedarf.

Was gibt es sonst noch zur Freizeitbeschäftigung im deutschen Teamhotel?

Müller: Da steht noch ein Basketballkorb rum, aber der kann nur bei gutem Wetter benutzt werden. Bei dem Regen hier war das bislang schwierig. Wir können auch Karten spielen und ein bisschen kuscheln. Und Golf spielen ist für die freien Tage vorgesehen. Hauptsächlich sind wir aber zum Fußballspielen da – nur dass das noch mal gesagt ist. Es ist nicht so wichtig, dass wir uns pudelwohl fühlen und jeder Tag bis zum Anschlag mit Spaß gefüllt ist. Es geht eher darum, gemeinsam Dinge zu machen, auch Teams zu bilden, sich zu unterhalten und auszutauschen, um den Teamgeist zu fördern. Es wäre nicht gut, wenn jeder immer auf sein Zimmer geht, und man trifft sich nur zum Essen. Man sollte eine Gruppe gut harmonierender Teamkollegen sein.

Sie klingen wie jemand, der mittlerweile nicht nur der Spaßvogel im Team sein will, sondern auch ein Anführer ...

Müller: Intern habe ich auch schon in den vergangenen Jahren versucht, mich stark einzubringen. Es war ohnehin noch nie so, dass ich nur der Spaßvogel war. Wenn es um Themen geht, die Seriosität erfordern, dann war die bei mir schon immer vorhanden.

Für Sie ist die EM das vierte Turnier. Was hat sich im Vergleich zu Ihrem ersten, der WM 2010, bei Ihnen verändert?

Müller: Damals war ich zunächst damit beschäftigt, meinen eigenen Tagesablauf hinzukriegen. Und jetzt schaue ich, dass auch die anderen ihren Tagesablauf hinbekommen. In der Rolle, in der ich mich heute befinde, versuche ich, mehr das große Ganze zu sehen.

Wie groß ist bei Ihnen der Reiz, nach dem WM-Titel auch den EM-Titel zu holen?

Müller: Der ist groß – unabhängig von der WM. Wenn man das Gefühl hat, in einer Mannschaft zu spielen, die den Titel holen kann, will man diesen Weg auch bis zum letzten Schritt gehen.

Dafür bräuchte es aber mal ein Müller-Tor bei einer EM. Bei Ihren WM-Auftritten haben Sie immer mehrfach getroffen. Bei der EM 2012 dagegen kein einziges Mal …

Müller: Man bräuchte es nicht unbedingt – aber es wäre vielleicht ganz hilfreich. (lacht) Es wurden ja auch schon Europameistertitel für Deutschland gewonnen ohne ein Müller-Tor. 1996 zum Beispiel.

Im Vergleich zur WM hat sich die Mannschaft verändert. Spüren Sie das?

Müller: Nach den Rücktritten der langjährigen Führungsspieler nach der WM (Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose; Anm. d. Red.) haben wir eine gewisse Zeit gebraucht, um wieder eine Führung in die Mannschaft reinzubekommen. Wir haben in den Spielen nach der WM nicht die Ergebnisse geliefert, die wir wollten. Dann gab es kritische Stimmen, und wir waren selbst auch nicht zufrieden. Mittlerweile haben wir aber auch im Zuge der Vorbereitung Strukturen reinbekommen. Die Voraussetzungen für gute Ergebnisse sind geschaffen worden. Und wir sind bemüht, dass wir die Ergebnisse auch liefern können.

Ist die Mannschaft im Vergleich zur WM 2014 besser oder schlechter geworden?

Müller: Wir haben einen noch breiteren Kader, mit annähernd gleichbleibender Qualität bei den Spielern, die zunächst auf der Bank sitzen. Also würde ich sagen: Aus der Hinsicht sind wir stärker als bei der WM. Das heißt aber nicht, dass wir auch die Spiele gewinnen.

Beschäftigen Sie sich eigentlich mit der Terrorangst? Im zweiten Spiel geht es nach Paris, wo Sie im vergangenen Jahr die Anschläge vom 13. November im Stade de France hautnah miterlebten.

Müller: Natürlich könnte man sich die Gedanken machen und zurückdenken. Aber ich bin eher ein Nachvornedenker und vertraue den Sicherheitskräften.

Es soll nicht abwertend klingen, aber wissen Sie schon etwas über die Ukraine?

Müller: Klingt trotzdem abwertend. Wir wissen ein bisschen was, ein paar Spieler kenne ich ja noch aus den Spielen gegen Donezk: den Torwart zum Beispiel, oder den linken Außenverteidiger. Dann haben sie zwei Außenstürmer, die im Dribbling ihre Qualitäten haben. Wir wissen also schon etwas. Bis zum Spiel werden wir auch die Details kennen.

Der Bundestrainer Joachim Löw hat gesagt, dass diesmal wieder verstärkt an Standardsituationen gearbeitet wird, und dass er dafür eine neue Trainingsform gefunden habe. Wie sieht das aus?

Müller: Da gibt es zwei Mannschaften im Training: Jede Mannschaft überlegt sich mehrere Standardvarianten, und dann spielt man gegeneinander – offensiv und defensiv. Das ist vom Mentalen her sehr gut. Wenn man nur sagt, jetzt schlagen wir ein paar Ecken rein, ist es von der Spannung oft schwierig. Wenn es aber ein Wettbewerb ist, geht man in jeden Ball rein wie im Spiel. Wir haben auch festgestellt, dass wir in den letzten zwei Jahren zu viele Standardgegentore kassiert haben. Ich glaube aber, dass wir jetzt eine gute Struktur gefunden haben.

Bei der WM gab es einen Müllertrick? Sie stolperten absichtlich über den Ball. Sehen wir so etwas hier wieder?

Müller: (lacht) Schauen wir mal.

Läuft es bei der deutschen Nationalmannschaft eigentlich so detailversessen wie bei Pep Guardiola?

Müller: Es ist nicht ganz so detailversessen, aber fußballtaktisch geht es schon in die gleiche Richtung. Wir haben ähnliche Mannschaften, wir wollen ja auch mit Ball spielen und haben viele fußballerisch gute Spieler.

Es läuft jetzt wieder einmal die Diskussion, ob es besser ist, mit echter Neun oder mit falscher im Sturm zu spielen …

Müller: Ja, läuft die? Seit vier Jahren läuft die schon, und keiner weiß eigentlich so recht, was das ist, nicht wahr?

Erklären Sie es uns!

Müller: Eine falsche Neun ist eigentlich nur Lionel Messi, der sich etwas aus dem Sturmzentrum fallen lässt, vier Leute ausdribbelt und dann ein Tor macht. Eine echte Neun ist einer, der sich nicht fallen lässt, aber trotzdem Tore schießt. Oder?

Wie würden Sie denn spielen lassen?

Müller: Das ist doch eine Wunschdiskussion – wenn da vorn ein Stürmer steht, der nur auf die Zuspiele wartet und trotzdem kein Tor macht, heißt es: Der beteiligt sich nicht am Spiel und hilft der Mannschaft nicht. Wenn man mit einem quirligen Spieler vorn spielt, heißt es: Der kann ja keine Flanken verwerten. Es wird immer eher das Nega­tive gesucht als das Positive, wenn es nicht funktioniert. Wir müssen hier in Frankreich also dafür sorgen, dass es funktioniert – egal mit welchem Spielertyp vorne im Angriff.