Weil Lahm-Nachfolger Schweinsteiger langfristig ausfällt, wird beim DFB wieder einmal die Führungsfrage diskutiert – zum Unwillen von Löw

Frankfurt/Main. Eigentlich wollte Jens Grittner nur höflich sein. Die erste Frage vor dem Länderspiel gegen Polen am Sonnabend in Warschau (20.45 Uhr/RTL), so der DFB-Pressesprecher, gebühre Kapitän Manuel Neuer. Doch bevor diese im tristen Presseraum der Commerzbank-Arena im noch tristeren und sehr herbstlichen Frankfurt am Mittwochmittag gestellt werden konnte, grätschte links auf dem Podium Toni Kroos verbal dazwischen. „Basti ist Kapitän“, flüsterte der Neu-Madrilene, und freute sich diebisch über den angeblichen Versprecher.

Kroos hatte recht, Grittner aber auch. Tatsächlich hatte Bundestrainer Joachim Löw nach der WM in Brasilien Bastian Schweinsteiger zum Nachfolger des zurückgetretenen Philipp Lahm ernannt. „Bastian hat immer Verantwortung übernommen, auf und neben dem Platz“, so Löw, „zu ihm habe ich Vertrauen.“ Da der so überschwänglich gelobte Mittelfeldmann aber auf unbestimmte Zeit mit einer hartnäckigen Reizung der Patellasehne am Knie ausfällt, ist nun eben Neuer der Vertreter des Vertreters. Und als dieser sollte er nun also die Frage beantworten, ob er mit der Kapitänsbinde am Arm zusätzlichen Druck verspüre. „Überhaupt nicht“, antwortete der smarte Torhüter, „ich übernehme doch gerne Verantwortung.“ Und auf Nachfrage betonte Neuer, dass der Basti selbstverständlich fehlen würde, wie wichtig der Basti als „Sprachrohr“ des Teams und als „Taktgeber auf dem Platz“ sei und, dass die Verantwortung nun eben auf mehrere Schultern verteilt werden müsse.

Es war eine Antwort wie aus dem DFB-Lehrbuch, die Bundestrainer Joachim Löw gefallen haben dürfte. Denn fast nichts nervt den Fußballlehrer so sehr wie die so gern diskutierte Frage nach den Leitwölfen, besser: nach den fehlenden Leitwölfen. Als Löw nach Lahms Rücktritt gar nach der „flachen Hierarchie“ gefragt wurde, war es für einen kurzen Moment mit der badischen Contenance vorbei: „Das gibt es bei uns nicht“, sagte Löw, der ganz bewusst auf ein ganzes Rudel voller Leitwölfe setzt: „Die Hierarchie ist gegeben. Die These, dass es bei uns keine Führungsspieler gibt, wurde bei der WM widerlegt.“

Dass die Effenbergisierung des Fußballs endgültig vorbei ist, scheint für den einen oder anderen schwer zu verstehen zu sein. Für Oliver Bierhoff, schon immer ein Gegner dieser klassischen Chef-Debatte, nicht: „Wir haben Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Manuel Neuer, Mats Hummels, Thomas Müller oder Toni Kroos. All diese Spieler können und müssen sogar Verantwortung übernehmen und den Rest der Mannschaft führen.“ Und bis auf den außerhalb des Platzes eher introvertierten Kroos sind natürlich auch alle von Bierhoff erwähnten Nationalspieler im DFB-Mannschaftsrat.

Wirklich überraschend ist die neue Führungsstruktur der Nationalelf nicht. Auch in der Liga scheint die Zeit des klassischen Leaders längst vorbei zu sein, obwohl eine klar zu erkennende Führungsstruktur auch weiterhin gewollt ist. Bei den Bayern geben etwa Lahm, Schweinsteiger, Müller sowie Neuer, aber auch Franck Ribéry, Arjen Robben und neuerdings Xabi Alonso ganz ohne Deutschkenntnisse den Ton an. Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge hatte vor einiger Zeit diese Vielköpfigkeit sogar explizit mal gefordert: „Ich halte nichts von flachen Hierarchien, klare Hierarchien sind essenziell.“ Das sieht man auch in Dortmund ähnlich, wo vor allem Neu-Kapitän Hummels gemeinsam mit den Mannschaftsräten Roman Weidenfeller und Sebastian Kehl von Trainer Jürgen Klopp in die Pflicht genommen wird.

Den wohl größten Mannschaftsrat aller Zeiten mit gleich sieben Mitgliedern gönnt sich übrigens neben Schalke (Benedikt Höwedes, Tranquillo Barnetta, Kevin-Prince Boateng, Julian Draxler, Ralf Fährmann, Klaas-Jan Huntelaar und Roman Neustädter) auch der HSV. Hier sollen neben Kapitän Rafael van der Vaart auch Vize Johan Djourou, Marcell Jansen, die Torhüter Jaroslav Drobny und René Adler, sowie die Neuzugänge Nicolai Müller und Valon Behrami Führungsaufgaben übernehmen.

Als Djourou etwa mit Ex-Trainer Mirko Slomka nach der WM stritt, ob er noch ein paar Tage Sonderurlaub erhalten dürfe, war es Kapitän van der Vaart, der sich für seinen Kollegen einsetzte. Dass eine vielköpfige Führungsriege aber nicht immer des Rätsels Lösung ist, zeigt ein Mannschaftsabend des HSV in der vergangenen Woche beim Italiener, zu dem Neuzugang Cléber nicht eingeladen war. Keiner der sieben Mannschaftsräte hatte daran gedacht, dem ausschließlich portugiesisch sprechenden Brasilianer Bescheid zu geben. Ein Fauxpas, der im DFB-Team so allerdings nicht zu erwarten ist.