Vor dem Beginn der EM-Qualifikation spricht Weltmeister André Schürrle über den Titel, die Vorlage seines Lebens und HSV-Neuzugang Lewis Holtby

Düsseldorf. Am Sonntag startet Deutschland gegen Schottland (20:45 Uhr, RTL live, Live-Ticker auf www.abendblatt.de) in die EM-Qualifikation – auch dank André Schürrles Vorlage im Finale gegen Argentinien als Weltmeister.

Hamburger Abendblatt:

Herr Schürrle, wir haben Ihnen etwas mitgebracht...

André Schürrle:

(schaut auf das vor ihm liegende Ipad, auf dem der rund eine Minute lange YouTube-Clip des Finaltors von Mario Götze gegen Argentinien beginnt) Ich habe mir dieses Tor schon hunderttausende Male im Internet angesehen, und trotzdem bekomme ich jedes Mal wieder eine Gänsehaut. (streicht sich über die Arme) Diese Sekunden werde ich nie vergessen. Das war der schönste Moment in meinem Leben, mit Worten einfach nicht zu beschreiben.

Auch dem Finalkommentator Tom Bartels hat es offenbar schon vor dem Tor die Sprache verschlagen...

Schürrle:

Das ist mir noch gar nicht so aufgefallen, aber Sie haben Recht. (nimmt sich wieder das Ipad und schaut sich den Clip noch mal an. Und tatsächlich: Direkt vor Schürrles Flanke hatte der ARD-Kommentator eine ungewöhnlich lange Redepause eingelegt, um dann regelrecht zu explodieren: „Schürrle...der kommt an...mach ihn...! Er macht ihn... Maaaaario Götze! Das ist der Wahnsinn!“) Das war wirklich der Wahnsinn. Diese Sekunden vor und nach dem Tor haben sich ganz tief bei mir eingebrannt.

Erzählen Sie...

Schürrle:

In der Halbzeit der Verlängerung kam Thomas Müller zu mir und sagte mir, dass wir jetzt unbedingt ein paar Einzelaktionen bräuchten. Als ich dann die Linie entlang lief, habe ich aus dem Augenwinkel Mario in der Mitte gesehen. Ich wollte dann unbedingt die Aktion durchziehen, bin bis an die Grundlinie gelaufen und habe den Ball scharf reingezogen. Dass Mario ihn so überragend annimmt, war der Wahnsinn. Ich hatte ja wahrscheinlich den besten Platz im ganzen Stadion...

Träumen Sie manchmal von dem Tor?

Schürrle:

Jedenfalls denke ich unglaublich oft an diese Sekunden zurück. Das wird auch immer so bleiben. Als der Ball im Tor lag, war ich mir absolut sicher, dass wir Weltmeister werden. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.

Direkt nach dem Spiel haben Sie uns gesagt, dass Sie ein wenig Zeit brauchen würden, das alles zu realisieren. Haben Sie es in den vergangenen acht Wochen und in den vergangenen drei Tagen nach dem 2:4 geschafft?

Schürrle:

Mir fällt es immer noch schwer. Ich weiß schon, was es bedeutet, Weltmeister zu sein. Aber ich kann da jetzt keinen Deckel drauf machen. Diese Wochen in Brasilien waren so intensiv, einfach unbeschreiblich.

Haben Sie sich ein besonderes Andenken mitgenommen?

Schürrle:

Meine Weltmeisterschaftsmedaille und mein Finaltrikot hängen bei meinem Vater in der Heimat. Ich selbst will mir noch eine Duplikation des WM-Pokals machen lassen und den dann in meinem Haus in London an einem schönen Plätzchen aufstellen.

Wie haben die Leute in England reagiert, als Sie nach Ihrem WM-Urlaub auf Ibiza zurück in London waren?

Schürrle:

Die Anerkennung war riesig. Fremde Menschen sind zu mir gekommen, haben mir gratuliert und mir gesagt, dass Deutschland den Titel verdient gewonnen hat. Einem Engländer dürfte so ein Lob ja nicht so einfach fallen. Und auch sonst merke ich, dass dieser Titelgewinn ungeahnte Folgen hat. Ich kann jetzt nicht mehr so einfach über die Oxfordstreet flanieren gehen. Alle paar Sekunden werde ich um ein Foto oder ein Autogramm gebeten.

Nervt das nicht?

Schürrle:

Überhaupt nicht. Ich freue mich sogar über die Anerkennung. Und wenn ich dann doch mal meine Ruhe haben will, dann gehe ich mit Sonnenbrille und Cappi in die Stadt. Das funktioniert meistens noch ganz gut.

Wie war Ihr erstes Training nach der WM beim FC Chelsea?

Schürrle:

Ziemlich cool (grinst). Die Jungs sind zu mir gekommen, haben mir gratuliert. Sogar Trainer José Mourinho hatte mir noch in der Finalnacht eine SMS geschrieben.

Was stand da drin?

Schürrle:

Woooooooooorld Champion! Mit zehn „O“s.

Nach dem enttäuschenden 2:4 bei der Neuauflage gegen Argentinien beginnt nun am Sonntag die EM-Qualifikation in Dortmund gegen Schottland. Können Sie den Schalter so einfach umdrehen?

Schürrle:

Das ist schon eine Herausforderung, die wir nicht unterschätzen sollten. Wir haben ja alle noch diese unglaublichen Bilder im Kopf, die auch vor dem Argentinien-Spiel am Mittwoch in Düsseldorf wieder hochkamen. Aber der Titel ist auch eine Zusatzmotivation, die uns als Mannschaft stärker macht. Wir sind in ganz Europa die Gejagten. Jeder will den Weltmeister schlagen.

Mit Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker sind drei Weltmeister nicht mehr dabei. Kann man dieses 354-Länderspiel-Trio überhaupt ersetzen?

Schürrle:

Nein. Die drei waren ja nicht nur wegen ihrer ganzen Länderspiele so wichtig, sondern sie waren auch wichtige Persönlichkeiten in unserer Mannschaft. Die kann man nicht so einfach von heute auf morgen eins zu eins ersetzen. Aber mit der Zeit werden andere Spieler einen Schritt nach vorne machen. Wir haben so viele großartige Talente, dass ich mir da keine großen Sorgen machen.

Am Montagabend hat Bundestrainer Joachim Löw der Mannschaft verraten, dass Bastian Schweinsteiger neuer Kapitän wird. Warum ist er der richtige?

Schürrle:

Bastian ist die perfekte Wahl. Er war ja auch vorher schon Philipps Stellvertreter. Dass Bastian eine Mannschaft führen kann, das hat er ja auch im WM-Finale bewiesen.

Wird die Rolle des Kapitäns medial möglicherweise überbewertet?

Schürrle:

Überhaupt nicht. Ich finde es noch immer sehr wichtig, dass man einen Mannschaftskapitän hat, an dem sich alle irgendwie orientieren können. Er muss führen können, in jeder Situation. Gerade in der Nationalmannschaft braucht man einen Kapitän, zu dem jeder aufschauen kann.

Auch Ihr früherer Mainzer Mannschaftskollege Lewis Holtby würde früher oder später gerne wieder zur Nationalmannschaft stoßen. Ist der Wechsel zum HSV der richtige Schritt für ihn?

Schürrle:

Vor allem ist es für den HSV ein Sensationstransfer. Ich kenne Lewis sehr gut, und ich weiß, dass er dem HSV wirklich weiter helfen kann. Er kann einer Mannschaft den entscheidenden Kick geben. Er ist so ein Typ, der einfach nur kicken will. Und bei Tottenham ging das zuletzt nicht mehr.

Warum nicht? Warum fällt es vielen Spielern aus der Bundesliga so schwer, in der Premier League Fuß zu fassen?

Schürrle:

In England ist es schon alleine deswegen viel schwieriger sich durchzusetzen, weil die Top-Clubs riesige Kader haben. Alle Topspieler aus der Welt kommen in die Premiere League und jeder will spielen. Da ist bei jedem Training der Druck enorm hoch. Bei Clubs wie Chelsea, Arsenal, ManU oder eben auch Tottenham gibt es so viele Weltklassespieler, die sich alle um einen von elf Plätzen streiten. Schwächen werden nicht geduldet. Wer nicht in jedem Spiel und in jedem Training seine Leistung bringt, der ist raus.

Das klingt sehr hart.

Schürrle:

Es ist sehr hart. Der Leistungsdruck ist riesig. Als deutscher Nationalspieler hat man aufgrund der Erfolge ein gewisses Standing. Aber dann stehen da ja auch noch französische, portugiesische oder brasilianische Nationalspieler neben Dir. Und plötzlich spielt es keine Rolle mehr, ob Du Weltmeister bist oder nicht. Da muss jeder selbst wissen, ob er sich das antun will. Für Lewis ist es aus meiner Sicht der richtige Schritt, einen Neustart in Hamburg zu wagen, auch wenn er mir in London fehlen wird.

In Mainz waren Sie die berühmt-berüchtigten Bruchweg Boys. Haben Sie sich auch in London oft getroffen?

Schürrle:

Wenn es die internationalen Wochen zugelassen haben, dann haben wir uns gelegentlich gesehen. Und wenn wir uns nicht treffen können, dann schreiben wir uns regelmäßig über WhatsApp. Er hat mir auch eine Nachricht geschickt, als sein Wechsel nach Hamburg klar war. Jetzt muss ich mir einen neuen Essenspartner suchen...

Mit Lukas Podolski, Per Mertesacker und Mesut Özil gibt es ja immer noch drei Mannschaftskollegen in London...

Schürrle:

Eigentlich sieht man sich selten, jeder hat ja auch seine Familie. Nur Poldi treffe ich häufig. Der ist irgendwie immer in dem gleichen Restaurant, in dem ich auch gerade bin.