Dass Joachim Löw Philipp Lahm aus dem Mittelfeld in die Abwehr zurückzog, beweist seinen Pragmatismus. Das war vor dem Spiel gegen Frankreich nicht unbedingt zu erwarten gewesen.

Rio de Janeiro. Bevor auch nur eine einzige Minute gespielt war im Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich, schien ein Duell längst schon verloren zu sein. Joachim Löw gegen Volkes Meinung, 0:1. Der Bundestrainer hatte sich gegen die „Equipe Tricolore“ entschieden, vieles, was zuvor für ihn bei dieser WM richtig war, über den Haufen zu werfen und sich damit dem zu beugen, was das Fußballvolk forderte – artikuliert durch die „Bild“ und allerhand Experten: Löw zog Philipp Lahm überraschend aus dem zentralen Mittelfeld ab und beorderte ihn rechts in die Viererkette, obwohl er das lange vehement abgelehnt hatte. Damit sprengte er auch seine bis hierhin favorisierte Kette aus vier Innenverteidigern, degradierte zudem völlig überraschend den bis dahin als Abwehrchef gesetzten Per Mertesacker zum Ersatzspieler und änderte dazu auch noch sein System von einem 4-3-3 ohne echten Angreifer zurück zum guten, alten 4-2-3-1 – mit Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger im zentralen Mittelfeld und Miroslav Klose als waschechtem Stürmer.

Was bitte hatte diese Kehrtwende nun zu bedeuten? Ist Löw umgefallen vor dem immer aggressiver vorgetragenen Druck der Öffentlichkeit? Ist er etwa eingeknickt? Oder hatte sich innerhalb von nur wenigen Tagen eine völlig konträre Meinung in ihm breit gemacht – eine aber, die weniger von Überzeugungen geleitet ist, sondern vielmehr von Pragmatismus?

Nach dem 1:0 gegen Frankreich und dem Einzug ins WM-Halbfinale erklärte sich Löw: „Irgendwie hatte ich das Gefühl, für dieses Spiel einen anderen Reiz setzen zu müssen“, sagte der Bundestrainer. Die Analyse der Franzosen hätte ergeben, „dass sie im Zentrum sehr kompakt stehen und dort wenig geht. Deshalb war es die Überlegung, mit Philipp über außen mehr Druck aufzubauen und mit Miroslav Klose einen Stürmer zu bringen, der beide Innenverteidiger beschäftigt.“ Auch die Entscheidung gegen Mertesacker habe taktische Gründe gehabt: „Die Angreifer der Franzosen sind schnelle Leute. Ich hatte das Gefühl, dass Boateng und Hummels die richtigen Spieler dafür sind“, sagte Löw. Mit Mertesacker habe er schon am Vorabend darüber gesprochen: „Er hat das super aufgenommen und die Mannschaft unterstützt.“

Es muss also konstatiert werden: Löw hat dem Pragmatismus Vorrang gegeben – und das war vor dem Spiel so nicht zu erwarten gewesen.

Wenn man so will, dann handelte Joachim Löw in den bislang drei Wochen dieser WM wie ein Politiker, der in seiner letzten Amtsperiode steht und nicht mehr wiedergewählt werden kann. Der Bundestrainer gab vor, völlig „tiefenentspannt“ zu sein. Dieses Wort benutzte Löw vor dem Viertelfinale gegen Frankreich, um seine Gemütslage zu beschreiben, und schob auch noch den Beisatz nach: „Das können Sie mir wirklich abnehmen.“ Tiefenentspannt ist auch ein Politiker, der ausschließlich nach seiner Überzeugung handelt, ohne auf Volkes Meinung allzu große Rücksicht nehmen zu müssen. Wer von dieser Last befreit ist, macht das, was er für richtig hält.

Tiefenentspannt trat auch Löw auf, und man hatte den Eindruck, als wähne er sich in einer ähnlich komfortablen Lage: Er tat, was er für richtig hielt und pfiff auf Sympathiepunkte beim Fußballvolk – als wenn es keine weitere Amtszeit mehr für ihn geben wird, als wenn er sie überhaupt nicht mehr will. Lahm spielt im zentralen Mittelfeld, basta. Vorn spielt Thomas Müller als „falsche Neun“, basta.

Selbst als der Druck auf Löw nach dem schwachen Achtelfinale gegen Algerien immer größer wurde, hielt er an seiner Linie fest. Er habe sich entschieden, Lahm ins Mittelfeld zu stellen, und dabei bleibe er „bis zum Schluss“, sagte Löw der „Zeit“. Eingewandt wurde, dass dieses Interview vor dem Algerien-Spiel geführt, aber erst danach publiziert wurde. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass Löw und die Presseabteilung des DFB das Interview erst nach dem Algerien-Spiel autorisierten. Der Bundestrainer war also immer noch derselben Meinung, wenige Tage vor dem Frankreich-Spiel.

Nun entschied er sich aus taktischen Gründen kurzerhand um und präsentierte sich als Pragmatiker. Kurioserweise darf sich Löw bestätigt sehen, dass die Lahm-Diskussion, an der sich Wohl und Wehe des deutschen Abschneidens in Brasilien zu entscheiden schien, eine Scheindebatte ist. Der Kapitän sorgte gegen Frankreich nach vorn nicht für die erhofften Impulse. Und nach hinten hatte er sogar ungewohnt viele Fehler in seinem Spiel: So zum Beispiel, als Karim Benzema in der siebten Minute die große Chance zur Führung bekam, weil Lahm die Flanke über seine Seite nicht verhinderte. Das gleiche Bild kurz vor der Pause, als erneut die Flanke von Lahm nicht unterbunden wurde, und Torwart Manuel Neuer gegen Benzema rettete.

Ob er nun im Halbfinale am Dienstag erneut auf Lahm als Rechtsverteidiger setzen werde, wurde Löw gefragt: „Ich weiß es noch nicht“, sagte er, „es kommt letztlich auch immer darauf an, wie sich die Spieler fühlen. Sie sind heute an ihre Grenzen gegangen.“ Für die Mannschaft wäre es aber umsetzbar: „Vielleicht ist es unsere Stärke, dass wir taktisch flexibel sind“, sagte Löw. Seine eigene Fähigkeit zum Pragmatismus könnte ebenfalls dazuzählen.