Beim Spiel am Sonnabend gegen Ghana erreicht Per Mertesacker die magische Grenze. Nie war er wichtiger als heute

Santo André. Pünktlich um 11.45 Uhr betrat Per Mertesacker am Donnerstag das neongrüne Ufo im weißen Pressezelt des Costa Brasilis Hotels. Ganz links auf dem Podest nahm Dortmunds Roman Weidenfeller Platz, in die Mitte setzte sich DFB-Pressesprecher Jens Grittner, und ganz rechts ließ sich der frühere Bremer nieder. Doch alle 20 Kameras hatten ihr Objekt nur auf ihn gerichtet. Es war Mertesackers erste Pressekonferenz in Brasilien – und es gab einen besonderen Anlass. „Wirklich gerechnet hatte ich damit nicht“, beantwortete Mertesacker die Frage nach seinen Gedanken über seinen bevorstehenden 100. Einsatz im DFB-Team, „aber natürlich bin ich stolz darauf.“

Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, als Mertesacker Deutschlands versammelter Medienlandschaft erstmals Rede und Antwort stehen musste. Es war im Oktober 2004, als der damals 20 Jahre alte Zivildienstleistende in der 81. Minute vor 120.000 Zuschauern in Teheran sein Länderspieldebüt feierte. Eingewechselt für Christian Wörns. Links neben ihm verteidigte Andreas Görlitz, rechts neben ihm stand Robert Huth in der Abwehr. Staubig sei es gewesen, erinnert sich der heute 29-Jährige. „Es war eine Reise ins Unbekannte. Plötzlich waren da 120.000 Zuschauer im Stadion.“ Und mittendrin dieser 1,98-Meter-Schlaks aus Hannover. „Ich hatte gerade erst das Abitur gemacht, bin noch ganz normal zum Zivildienst reinmarschiert, und da wusste keiner, wer ich bin“, erinnerte sich der Innenverteidiger im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: „Und dann kam, in einer völlig anderen Welt, ein Highlight nach dem anderen.“

Vor allem ein Länderspiel nach dem anderen. Am Sonnabend in Fortaleza gegen Ghana (21 Uhr/ARD und im Liveticker bei abendblatt.de) wird Mertesacker tatsächlich zum 100. Mal für Deutschland auf dem Platz stehen. Er ist erst der 13. Nationalspieler, der diese magische Grenze durchbricht – und nie war er wichtiger für Deutschland.

Zwei Jahre nach der Enttäuschung bei der EM in Polen und in der Ukraine, als Mertesacker keine Sekunde spielen durfte, ist der Legionär von Arsenal London in Brasilien wieder unumstrittener Abwehrchef. Und da noch immer unklar ist, ob sein angeschlagener Nebenmann Mats Hummels tatsächlich bis zum Spiel gegen Ghana fit wird, setzt Bundestrainer Joachim Löw umso mehr auf die Routine seines Jubilars.

Doch wie hat „the big fucking German“, wie Mertesacker ehrfürchtig von Arsenals Fans gerufen wird, dieses beeindruckende Comeback geschafft? Die EM 2012 sei ein Schlüsselerlebnis für ihn gewesen, sagt der baumlange Abwehrmann heute. Zum ersten Mal in seiner Karriere hätte er auf der Bank gesessen. „Das bringt einen krass weiter: wenn man plötzlich merkt, wie es den anderen immer so geht“, sagt „Merte“, der wusste, dass er das Beste aus der nicht einfachen Situation machen musste: „Sonst wäre ich vielleicht in der Versenkung verschwunden.“

Tatsächlich ist das Gegenteil passiert. Nach einer schwierigen ersten Saison in London trumpfte Mertesacker nach der EM-Enttäuschung auch bei Arsenal auf. Trainer Arsene Wenger bestimmte ihn zum Kapitän und setzte in 69 Premier-League-Spielen in den vergangenen beiden Jahren auf die Qualität in der Abwehr made in Germany. Natürlich immer über 90 Minuten. Und auch Löw beorderte Mertesacker gleich im ersten Spiel der WM-Qualifikation wieder zurück ins Abwehrzentrum. „Erst da habe ich gemerkt, dass auch der Bundestrainer mir immer vertraut hat“, sagt Mertesacker, „wenn man nicht mehr spielt, vergisst man das ja gern, dann verliert man den Glauben, dass der Trainer einem vertraut.“

In Brasilien hat er keine Zweifel mehr. Der Routinier ist nicht nur einer der Chefs auf dem Platz, er ist jetzt auch einer der Wortführer neben dem Platz. Gemeinsam mit Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose, den anderen noch aktiven Mitgliedern des Clubs 100, bestimmte Mertesacker auch, wer mit wem in der WM-WG wohnen soll. Er selbst hat sich ein Sechserhaus mit seinen Arsenal-Kollegen Lukas Podolski und Mesut Özil, mit Sami Khedira, Jerome Boateng und Ron-Robert Zieler gesichert.

Doch wichtiger als die Zimmerbelegung im Campo Bahia ist dem baldigen „Mister Einhundert“, dass die Generation Sommermärchen, dass die Lahms, Podolskis, Schweinsteigers, Kloses und Mertesackers bei ihrer wahrscheinlich letzten WM endlich auch den letzten Schritt machen. Die Spanier, Angstgegner Nummer eins, seien ja bereits draußen. Und noch ein Halbfinal-Aus gegen Italien, Angstgegner Nummer zwei, könne einfach nicht mehr Deutschlands Anspruch sein. „Man braucht in solchen Spielen den besonderen Spieler und den besonderen Moment, aber vor allem braucht man eine besondere Mannschaft“, erklärte Mertesacker der „Süddeutschen“, „und das waren wir im entscheidenden Moment einfach nicht – es hat immer was gefehlt.“

Mertesacker ist ein ziemlich unangenehmer Gegenspieler, aber für Journalisten ist er ein ziemlich angenehmer Gesprächspartner. Er hat eine Stiftung, liest gerne, und er hat keinen Katalog mit vorgefertigten Antworten im Kopf. Mertesacker sagt, was er denkt, und vor allem ist er ehrlich. Nach 39 Minuten ist Mertesackers Jubiläums-Pressekonferenz vorbei. „So langsam komme ich ja in die Jahre“, sagt der gerade mal 29 Jahre junge Abwehrmann, „aber das eine oder andere Highlight will ich noch erleben.“

Eine ganz konkrete Idee hätte er da auch schon. In gut drei Wochen, in Rio de Janeiro, im Maracanã. Es wäre dann sein 105. Länderspiel. Und dieses wäre zweifelsohne ein echtes Highlight.