Vier gelernte Innenverteidiger bilden das Defensivgerüst, auf dem Löw seine Vision vom WM-Titel aufbaut. Daran würde auch der Ausfall Hummels’ nichts ändern

Santo André. Shkodran Mustafi hat sich vorgenommen, sein Handy auf Flugmodus zu stellen. „Ich muss erst einmal realisieren, was gerade alles so passiert ist“, sagt der 22-Jährige nach dem fulminanten 4:0 der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal im ersten Gruppenspiel bei der WM. Für all die Glückwunsch-SMS aus der Heimat sei später noch Zeit. „Ich habe das alles noch gar nicht so richtig verstanden“, berichtet Mustafi.

Das mag daran liegen, dass er sich ja gerade selbst so ziemlich im Flugmodus befindet. Vor etwas mehr als einer Woche noch hatte der Abwehrspieler vom italienischen Erstligisten Sampdoria Genua schon seine Sachen gepackt, um mit ein paar Kumpels in den Urlaub nach Ibiza abzuheben. Dann verletzte sich Marco Reus. Bundestrainer Joachim Löw fragte, ob Mustafi nicht vielleicht doch noch einmal seine Pläne überdenken möchte, und nominierte ihn nach. So begann der Abflug in das bisher wohl größte Abenteuer in der noch jungen Karriere des Shkodran Mustafi.

Schon im ersten Spiel gegen die Iberer hat Mustafi unverhofft die Reisehöhe erreicht. Als Mats Hummels in der zweiten Halbzeit wegen eines Schlags auf den Oberschenkel verletzt ausgewechselt werden musste, brachte Löw ihn in die Partie – nicht den Freiburger Matthias Ginter und auch nicht Kevin Großkreutz. Mustafi durfte zu seinem erst zweiten Länderspiel auf das Feld und sagte danach: „Das muss man auch erst einmal verdauen.“

Gegen Portugal bot Löw mit Jérôme Boateng, Hummels, Per Mertesacker und Benedikt Höwedes vier gelernte Innenverteidiger in der Viererkette auf. Und das änderte sich auch nicht, als Hummels verletzt rausmusste. Mustafi, in dessen Lebenslauf ebenfalls die Bezeichnung „zentraler Abwehrspieler“ zu lesen ist, kam und übernahm die für ihn ungewohnte Position des Rechtsverteidigers gegen Cristiano Ronaldo. Boateng rückte nach innen. „Mein Auftrag war einfach, den Laden hinten dichtzumachen“, sagt Mustafi, was er gegen den portugiesischen Superstar erstaunlich gut hinbekam.

Erstaunlich ist aber auch Löws Auftrag an ihn, weil es zeigt, wie sehr der Bundestrainer bei dieser WM von seinem bisherigen Defensivkonzept abgerückt ist. Statt Mustafi hätte er Großkreutz bringen können, der die Rolle des Rechtsverteidigers als verkappter Angreifer, wie Löw sie liebt und sie gängig ist im modernen Fußball, spielen kann. Er hätte Philipp Lahm zurückziehen und ihn mit Bastian Schweinsteiger im Mittelfeld ersetzen können. Löw tat dies nicht, weil Chefscout Urs Siegenthaler und er zu der Überzeugung gelangt sind, das unter den schwierigen klimatischen Bedingungen mit hohen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit die Außenverteidiger als permanente Unruhestifter in des Gegners Hälfte und Flankenschläger nicht vornehmlich gebraucht werden.

Nun könnte es aber sein, dass Löw seine Abwehr neu zusammenstellen muss. Hummels erlitt eine Prellung im Oberschenkel mit Einblutung in die Muskulatur und ist für die zweite Gruppenpartie gegen Ghana am Sonnabend höchst fraglich. „Vielleicht verpasse ich ein Spiel, aber ich falle nicht drei Monate aus“, sagte der Dortmunder. Er wurde im gleichen Krankenhaus untersucht wie Jérôme Boateng, der einen Teilabriss des Seitenbandes am Daumen erlitten hatte und sechs Wochen eine Schiene tragen muss.

Dass Löw gegen die Afrikaner vom Konzept der vier Innenverteidiger in der Abwehr abweicht, ist unwahrscheinlich. Boateng würde ins Zentrum rücken, fiele Hummels tatsächlich aus, und Mustafi könnte erneut die Position des Rechtsverteidigers übernehmen. Es wäre die konsequente Fortführung des Defensivkonzepts durch den pragmatischen Zirkusdirektor Löw. Und es wäre eine neuerlich erreichte Flughöhe für Mustafi auf seiner unverhofften Abenteuerreise durch Brasilien.