Spanien gilt vor dem WM-Start am Freitag gegen die Niederlande als überspielt. So mancher Experte rechnet damit, dass der Titelverteidiger nach der Gruppenphase nach Hause fliegen muss.

Curitiba. Während seiner goldenen Ära hat es sich Spanien angewöhnt, dem Glamour aus dem Weg zu gehen – was die Mannschaftsquartiere betrifft. Neustift (Österreich, 2008), Potchefstroom (Südafrika, 2010) und Gniewino (Polen, 2012) haben es als Herbergen des Ruhms trotzdem in die nationale Fußball-Mythologie gebracht, auf sie folgt nun das Trainingscenter Caju vor den Toren des WM-Spielorts Curitiba. Allein sieben Fußballplätze gibt es in der Stadt des Spitzenklubs Atlético Paranaense, weißen Sand und Kokospalmen wird man hingegen vergeblich suchen. Spanien hat vorsichtshalber erst mal nur für die Gruppenphase gebucht, die für den Titelverteidiger an diesem Freitag (21 Uhr, ZDF und Liveticker bei abendblatt.de) mit dem Spiel gegen die Niederlande beginnt.

So manche Experten erwarten nach den drei Gruppenspielen allerdings nicht den Umzug in ein anderes Quartier, sondern den Heimflug nach Madrid. Seit Brasilien 1962 hat kein Land einen WM-Titel verteidigt, zuletzt wurde sich mit Vorliebe blamiert: Frankreich kam 2002 ebenso wenig über die Vorrunde hinaus wie Italien 2010, Brasilien rumpelte 2006 nur unter Schmerzen für alle Beteiligten unter die letzten acht. In Zahlen nicht greifbar, aber genauso wirkungsmächtig ist zudem eine Art Wechselstimmung in der globalen Fußballgemeinde: die ewige Sehnsucht nach dem Neuen, nach dem Fall eines Imperiums.

Spaniens Trainer Vicente del Bosque selbst alimentierte diese Bedenken vor einigen Wochen mit dem Satz, in den Augen der Spieler sehe er nicht mehr denselben Blick wie vor vier Jahren. Es war wohl als kleiner Weckruf gedacht. Nun sagt der Nationaltrainer nämlich: „Das Verhalten der Spieler in den vergangenen Wochen war fantastisch, die Einstellung stimmt.“

Im Vorbereitungslager in Washington saßen Spielmacher Xavi und Torhüter Iker Casillas eines Vormittags schon lange vor Trainingsbeginn nebeneinander auf der Bank und unterhielten sich. Ihr Plausch wirkte wie ein poetisches Innehalten vor der letzten Schlacht, die das Turnier für viele aus ihrer Generation bedeuten wird. Spaniens Rekordtorschütze David Villa beispielsweise beendet danach seine Karriere in Europa und wechselt zum neuen Club New York City. Aber welche Nation hätte ihn nicht trotzdem gern dabei? Bei der Generalprobe in Washington gegen El Salvador erzielte er beide Tore.

Einen ähnlichen Kader wie Spanien kann niemand aufbieten. Villa ist einer von vier Abgesandten von Meister und Champions-League-Finalist Atlético Madrid. Dazu kommen drei Akteure von Endspielbezwinger Real Madrid, der Rest spielt bei Champions-League-Clubs in England, Italien und Deutschland (Javi Martínez) oder, das größte Kontingent von sieben Spielern, beim FC Barcelona. Kritiker setzen hier an, denn Barcelona hat dieses Jahr nichts gewonnen. Sechs der sieben Kandidaten haben unter dem abgetretenen Trainer Gerardo Martino dennoch eine ordentliche Saison gespielt, nur bei einem war wirklich so etwas wie ein Abfall festzustellen. Es ist jedoch der wichtigste Mann Spaniens, Xavi. Ist Xavi gut drauf, kann Spanien nichts passieren, lautet eine geflügelte Weisheit im Weltmeisterland. Dass ihm del Bosque den Taktstock entziehen könnte, gilt fürs Erste als sehr unwahrscheinlich. In den Testspielen hat der Trainer munter durchgemischt. Ein oder zwei Sechser, echte oder falsche Neun – intensiv ließ er verschiedene Optionen trainieren. Niemand weiß besser als der 63-Jährige, dass auch der Spielstil seiner Elf immer neue Varianten braucht.

Del Bosque hat deshalb früh um die Zusage des Hispanobrasilianers Diego Costa gekämpft – und trotz dessen Blessur auf seiner Nominierung bestanden. Warum del Bosque das alles tut, ließ sich gegen El Salvador beobachten. Da operierten die Spanier plötzlich mit langen Bällen und Vertikalangriffen, immer auf der Suche nach dem Stürmer. Oft wurden die Angriffe eingeleitet von seinem jungen Vereinskollegen Koke. Oder von den Real-Profis Sergio Ramos und Xabi Alonso. Spanien, bisher so stark mit dem FC Barcelona assoziiert, soll mit der Integration madrilenischer Kontervarianten unberechenbarer werden und seine latenten Probleme mildern, Feldüberlegenheit in Tore umzumünzen.

Aus Gewohnheit erfolgreich, ohne als Topfavorit zu gelten, dazu die Stimulanz, mancherorts schon abgeschrieben zu werden – es gibt psychologisch schlechtere Ausgangspositionen. Spaniens Auserwählte jedenfalls schworen sich während des Flugs aus der Heimat darauf ein, erst am Tag nach dem WM-Finale zurückzukehren. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihren vermeintlichen Abgesang verschieben.

Spanien: Casillas – Azpilicueta, Piqué, Ramos, Alba – Busquets, Alonso – Silva, Xavi, Iniesta – Costa Niederlande: Cillessen – de Vrij, Vlaar, Martins Indi – Janmaat, Kongolo – de Jong, de Guzman – Sneijder – Robben, van Persie