Bei der WM 2010 stand Manuel Neuer im Tor, weil sich unter anderem der heutige HSV-Torhüter René Adler verletzte. Jetzt muss er selbst um den Auftakt kämpfen.

Santo André. Manuel Neuer geht es gut. Richtig gut. In der einen Hand eine Wasserflasche, in der anderen Hand ein hellblaues Handtuch, spaziert der Torhüter der Nationalmannschaft in dunkelblauer Badehose am Strand vor dem Campo Bahia entlang. Nur der ziemlich blasse Oberkörper könnte noch die eine oder andere Strandeinheit vertragen. 8700 Kilometer vom Strand entfernt fragt sich derweil ganz Deutschland, ob es Neuer auch wirklich gut geht, also so richtig gut. Aber vor allem will das Land wissen: Wie geht es seinem Articulatio humeri, oder besser: Was macht die Schulter der Nation?

Ausgerechnet im letzten Spiel der Saison, beim Pokalfinale seiner Bayern gegen Borussia Dortmund, war es kurz vor Schluss passiert. Ein langer Ball, Neuer stürmte aus seinem Tor, rutschte aus, stützte sich ab und spürte diesen stechenden Schmerz. „Ich habe sofort gemerkt, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Aber ich bin einer, der auf die Zähne beißen kann“, sagte der Münchner nach dem Schlusspfiff. Bayern war Pokalsieger. Neuer hatte einen Kapseleinriss in der rechten Schulter. Normale Regenerationszeit: sechs bis acht Wochen. Die WM schien in Gefahr.

Dreieinhalb Wochen später sitzt Andreas Köpke im weißen Pressezelt, das der DFB neben dem Hotel Costa Brasilis aufgestellt hat. Deutschlands Bundestorwarttrainer schaut in 14 Kameras, 80 Journalisten sitzen vor ihm. „Ich habe eine wirklich gute Nachricht“, sagt Köpke fast staatstragend, „der Manuel ist auf einem richtig guten Weg. Wir gehen davon aus, dass er beim Spiel gegen Portugal zu einhundert Prozent einsatzfähig sein wird.“ Seit Sonntag darf Köpke seinen Schützling endlich wieder mit torwartspezifischen Übungen quälen, seit diesem Mittwoch ist Neuer wieder beim Teamtraining dabei.

Um 13 Uhr trainierte das Nationalteam auf dem knapp drei Kilometer entfernten Rasenplatz. Geprobt werden sollte der Ernstfall. „Wir wollten die Spielbedingungen aus der Partie gegen Portugal simulieren“, sagt Köpke, „in Salvador spielen wir am Montag ja auch um 13 Uhr.“ Nur für einen Spieler war es mehr als eine Simulation. Für Manuel Neuer war es die lang ersehnte Rückkehr zur Normalität.

Kaum einer weiß so gut wie Köpke, dass Neuer der entscheidende Schlüssel für Deutschland sein kann. „Manuel ist der kompletteste Torhüter weltweit“, sagt der Welttorhüter des Jahres 1996 über den Welttorhüter des Jahres 2013. Seit 2009 trainiert Köpke Neuer bei der Nationalmannschaft. Und wahrscheinlich ist es eine Ironie des Schicksals, dass sich Köpke gemeinsam mit Bundestrainer Joachim Löw vor der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika erst dann auf Neuer als Deutschlands Nummer eins geeinigt hatten, als der heutige HSV-Torhüter René Adler das Turnier wegen einer Rippenverletzung absagen musste. Während Adler seit 2010 mit Verletzungen und Formschwankungen kämpfte, mal Deutschlands Torhüter Nummer zwei, dann drei und dann gar kein Nationalkeeper mehr war, wird Neuer am Montag beim Auftaktspiel der deutschen Mannschaft gegen Portugal in Salvador also wieder zwischen den Pfosten stehen.

„Wir haben drei sehr gute Optionen im Tor“, schwadronierte Co-Trainer Hansi Flick dieser Tage ein wenig herum, „Weidenfeller hat gezeigt, dass er Weltklasseleistungen bringen kann. Er ist auf einem ähnlichen Niveau wie Neuer.“ Und dann sagte Flick doch, was er und das gesamte Trainerteam eigentlich denken: „Aber Manuel ist noch einen Tick besser. Er hat die Ausstrahlung, Ruhe und die fußballerischen Fähigkeiten. Er könnte sogar im Feld spielen.“ Seine Botschaft: Mit Weidenfeller kann man deutscher Meister werden, mit Neuer Weltmeister.

Dabei waren es ausgerechnet Neuers so gepriesene Fähigkeiten im Feld, die seinen Einsatz in Brasilien ins Wanken brachten. „Als Torwart ist man oft ein Einzelkämpfer. Aber auf dem Rasen habe ich wohl ein Helfersyndrom“, sagte Neuer kürzlich in einem Interview mit dem Bahn-Magazin „mobil“, nicht ahnend, dass ihn dieses „Helfersyndrom“ fast um die WM gebracht hätte. Denn sein Ausflug im Pokalfinale war nicht nur gewagt, er war überflüssig.

69 Gegentoren in 49 Länderspielen

Wahrscheinlich ist Neuer nicht nur einer der besten Torhüter der Welt, oft ist er auch einer der riskantesten. Er liebt es mitzudenken, mitzuspielen. „Manuel ist immer anspielbar. Im heutigen Fußball muss der Torhüter den Part des frühen Liberos übernehmen“, sagt Bundestrainer Löw, der seinen Schlussmann darin bestärkt, nichts, aber auch gar nichts an seiner Spielweise zu ändern. Auch nicht, nachdem Deutschland in 49 Länderspielen insgesamt 69 Gegentore kassiert hat. Weltmeister wird man so nicht.

Das weiß auch Löws Nummer eins. Alle müssten bei dieser WM auch defensiv denken, sagt er: „Ich gewinne lieber zu null als 5:4.“

Neuer, Vater Polizist, Mutter Hausfrau, ist nicht nur ehrgeizig, er ist besessen. „Ich bin ein Perfektionist“, formuliert er seinen eigenen Anspruch. Ob der Keeper ein mentales Problem haben könnte, wurde am Mittwoch DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann gefragt. „Nein“, antwortete der Sportpsychologe, „Manuel kann sehr, sehr gut mit Druck umgehen.“ Mit 20 Jahren war Neuer der jüngste Stammtorhüter der Bundesliga, mit 23 Jahren wurde er zum besten Keeper der U21-Europameisterschaft gewählt und mit 27 Jahren holte er als Welttorhüter mit Bayern München das Triple. Jetzt, mit 28 Jahren, will er Weltmeister werden. „Wenn wir kein Gegentor kassieren, dann werden wir Weltmeister, das steht fest“, sagt Neuer.

Eine WM ohne Gegentore ist natürlich utopisch. Und trotzdem: Vieles wird von Neuer abhängen. Es ist eine große Last auf seinen Schultern. Aber der Schulter geht es ja gut. Richtig gut.