Sechs Monate wurde über das Campo Bahia, das WM-Quartier der deutschen Nationalmannschaft, diskutiert. Einen Tag vor der Ankunft des DFB scheint es nun fertig. Zumindest fast.

Santo André. Es ist bereits dunkel. Stockdunkel. Celia sitzt auf einem kleinen Hocker vor ihrem T-Shirt-Laden und legt ihre Stirn in Falten. Der Sand von der staubigen Piste, der einzigen Straße Santo Andrés, knirscht zwischen den Zähnen. Es ist heiß. Die Brasilianerin schlägt die Hände vors Gesicht, schüttelt den Kopf. Auf dem Tischchen vor ihr liegt ein Papier, das der 47 Jahre alte Bahianerin offenbar den letzten Nerv raubt. Dann plötzlich, nach ein paar Sekunden, strahlt sie. „Guten Tag,“ sagt Celia auf Deutsch, „darf ich Ihnen helfen?“

Richtig. Wally hebt den Daumen und lobt. „Muito bem“, sagt die Deutsche. Vor fünf Jahren ist die Baden-Württembergerin mit ihrem Mann in ein Haus oberhalb des 800-Einwohner-Örtchens im Nordosten Brasiliens gezogen. „Er ist ein kleines Paradies“, sagt die frühere Grundschullehrerin, die seit einigen Monaten im Ort ehrenamtlich Sprachunterricht gibt. Und das Interesse ist groß. Natürlich: Die Deutschen kommen.

An diesem Sonntag ist es so weit. Um 6.25 Uhr soll der DFB-Tross im 30 Kilometer südlich gelegenen Porto Seguro landen. Eine Stunde später wird die Nationalmannschaft auf der anderen Seite des João de Tiba am Fähranleger von Santo André erwartet. Einige Bewohner wollen kommen, auch Celia wird da sein, und ein paar Schulkinder sollen kleine Deutschland-Fähnchen schwenken. Gespannt ist man vor allem, ob sich die berühmten Fußballer vom anderen Ende der Welt aus ihren Vans mit den verdunkelten Scheiben trauen.

Bem vindo na Costa do Descobrimento, steht auf einem Straßenschild. Willkommen an der Küste der Entdeckungen. Willkommen im Paradies.

„Natürlich gab es mal den einen oder anderen Moment, bei dem ich ins Zweifeln kam“, sagt Tobias Junge, der Chef des DFB-Paradieses. Der Bauleiter des Campo Bahia, in dem Jogi Löws Team nach Möglichkeit bis zum 13. Juli, dem Finaltag der WM, bleiben soll, wirkt geschafft. Der stämmige Geschäftsführer des millionenschweren Großprojekts sitzt auf der Terrasse des Victor Hugo, einem Restaurant mit Meerblick direkt neben dem Quartier der Deutschen, über das im vergangenen halben Jahr in Deutschland fast mehr diskutiert wurde als über die ersten sechs Monate der Großen Koalition. Die oberen zwei Knöpfe seines blau-weiß-karierten Hemdes stehen offen, aber der Schweiß läuft dem gelernten Bergwerksingenieur über die Stirn. „Wir sind fertig. Fix und fertig“, sagt Junge, der gemeinsam mit den Investoren Kay Bakemeier und Christian Hirmer das Campo Bahia in Rekordzeit aus dem Boden stampfte.

15.000 Quadratmeter umfasst „das germanische Dorf“, wie DFB-Manager Oliver Bierhoff die Deutschland-WG bei der ersten Powerpoint-Präsentation im Dezember nannte. In 14 mondänen Häusern sollen Philipp Lahm, Lukas Podolski, Mesut Özil und Co. während der WM in einer Wohngemeinschaft „mit gemeinsamem Kühlschrank“, wie Bierhoff stolz betonte, wohnen. 1,5 Millionen Euro Miete lässt sich der DFB das brasilianische Dschungelcamp kosten. Insgesamt gibt es 65 Wohneinheiten, einen Pool und ein Restaurant. Mosaikfliesen wurden verlegt, Natursteine verwendet. Jeweils sieben Künstler aus Brasilien und Deutschland gestalteten das Kickerdorf, das nach der WM in ein „Condomínio“, eine bewachte Wohnanlage, verwandelt werden soll. Am Mittwoch gab es ein Probeessen, am Donnerstag wurden die Fitnessgeräte aufgebaut, am Freitag zogen die ersten DFB-Mitarbeiter ein. Die letzte Fifa-Abnahme, bei der das Camp auch auf Bomben und Radioaktivität überprüft wird, erfolgt an diesem Sonnabend.

„Es ist schon ein ganz besonderes Projekt“, sagt Junge, dem neben dem Zeitdruck, absurden DFB-Vorgaben und der brasilianischen Arbeitsmoral vor allem auch die deutsche Berichterstattung zu schaffen machte. Fehlende Bauarbeiterhelme wurden bundesweit genauso thematisiert wie ein geklautes Motorrad. Diskutiert wurde über „Killer-Mücken“, die Drogenmafia und angebliche Chemikalienverschmutzung. „Ich hatte oft das Gefühl, dass der eine oder andere voller Schadenfreude darauf gehofft hat, dass wir hier scheitern“, sagt Junge, „aber wir haben es geschafft.“

Zumindest fast.

Noch immer arbeiten rund 80 Bauarbeiter „an den letzten Feinheiten“, wie Junge die restlichen Arbeiten nennt. In Wirklichkeit ist es ein Kommen und Gehen rund um das DFB-Paradies, das von einem hohen Eukalyptuszaun vor zu neugierigen Blicken geschützt werden soll. Zwei Polizisten und wenig auskunftsfreudiges DFB-Security-Personal sichern die Eingänge, durch die niemand darf. „Der DFB wollte das so“, sagt Junge, der wohl auch nicht immer glücklich über die nicht ganz einfache Zusammenarbeit mit dem größten Fußballverband der Welt war.

Bauschrott stapelt sich meterhoch auf der Sandpiste, große Lkw rumpeln über die Dorfstraße. „Es fehlt noch eine ganze Menge“, sagt einer der Arbeiter, insgesamt 300 wurden überwiegend aus der Gegend rund um Santo André rekrutiert. „Aber die Deutschen werden sich schon wohlfühlen.“

Keine andere WM-Nation hat einen derartigen Sonderweg beschritten wie der DFB. Sollten sich die Fußballer nicht wohlfühlen, wäre es ein Fiasko.

Tatsächlich wird traditionell die Qual der Quartierswahl in keinem Land der Welt derart leidenschaftlich diskutiert wie in Deutschland. So wurde 1954 über einen angeblichen Widerstand niederländischer Touristen gegen die Sepp-Herberger-Elf im Strandhotel Belvédère am Thunersee in Spiez berichtet. Die spartanische Einrichtung der Sporthochschule Malente beim WM-Triumph 1974 ist bis heute legendär. Als eine der größten Quartier-Fehlplanungen gilt die Wahl des Principe de Asturias in Gijon bei der WM 1982 in Spanien, weil Touristen regelmäßig die Nacht zum Tage machten. Wirklich mittendrin statt nur dabei waren die Deutschen daraufhin nur noch einmal: bei der Heim-WM 2006 im Berliner Schlosshotel Grunewald. Das Velmore Grand Hotel in Südafrika vor vier Jahren stand dagegen erneut in der Pampa – fast so abgelegen wie das Campo Bahia jetzt.

Dabei scheint die Erfolgsformel für das richtige Quartier denkbar einfach: Wird Deutschland am 13. Juli im 1130 Kilometer entfernten Maracanã Weltmeister, war die Wahl richtig. Fliegt die DFB-Auswahl raus, war sie falsch.

Als alles andere als richtig empfindet Lea Penteado das Campo Bahia schon jetzt. Die resolute Brasilianerin ist nicht die einzige Kritikerin des Großprojekts im kleinen Santo André, sie ist aber sicherlich die lauteste. „Die Deutschen mögen etwas von Ingenieurswesen verstehen, von angemessener Kommunikation verstehen sie nichts“, sagt die 65 Jahre alte PR-Expertin, die als Pressesprecherin mehrerer Großveranstaltungen gearbeitet hat. „Würden Sie bei Ihren neuen Nachbarn nicht auch mal klingeln, wenn Sie nebenan ein Haus bauen und in den nächsten sechs Monaten nur Lärm und Schmutz machen?“, fragt sie süffisant.

Im tropischen Garten von Penteados Haus, das nicht einmal einen Freistoß entfernt liegt von der Unterkunft von Neuer, Mertesacker und Co. liegt, ist tatsächlich auch jetzt noch Baulärm zu hören. Doch der in São Paulo geborenen Brasilianerin, die vor zehn Jahren nach Santo André gezogen ist und sich als eine Art Sprachrohr des Ortes versteht, geht es um mehr. Um viel mehr.

„Niemand weiß genau, was hier nach dem WM-Finale passieren wird“, sagt Penteado. Die Querulantin, wie sie von manch einem Nachbarn genannt wird, kommt in Fahrt – im Gegensatz zu den wenigen Autos, die seit Freitag nicht mehr durch die Dorfstraße durchkommen. „Warum darf der DFB die einzige Straße durch unseren Ort sperren lassen?“, fragt Penteado, die sich nun ausweisen muss, wenn sie ans andere Ende Santo Andrés will. Sie spricht über schlechtes Trinkwasser, fehlende Hinweisschilder und über das knappe Geld für die Dorfschule mit 85 Kindern. „Natürlich kann man nicht für alles das Campo Bahia verantwortlich machen. Unsere Prefeitura hat versagt“, sagt Penteado, die aber auch den zwei Kilometer entfernten, extra für den DFB gebauten Fußballplatz nicht verstehen will. „Normalerweise bekommt man hier erst nach vielen Monaten eine Baugenehmigung. Die Deutschen durften mitten im Naturschutzgebiet nach nur 15 Tagen loslegen.“

Rainer Ernst bestreitet das. „Uns wurden sehr harte Umweltauflagen auferlegt. Und die haben wir auch erfüllt“, sagt der Frankfurter, den offenbar nur eines aus der Ruhe bringen kann: Der Landschaftsarchitekt will unter keinen Umständen als Rasenpapst bezeichnet werden, schon eher als Rasenflüsterer. „Damit kann ich leben“, sagt Ernst, der 64 Tage lang intensiv dem Grün der Nationalmannschaft zugeflüstert hat. Mit einer speziellen Maschine wurde das Bermudagras der vielsagenden Sorte Celebration im Abstand von acht Zentimetern auf dem knapp zwei Hektar großen Arial ausgebreitet. Der Rasen ist 22 Millimeter lang und wird dank eines eigens ausgehobenen, 110 Meter tiefen Brunnens mit 100.000 Litern alle paar Tage bewässert. „Wir haben den gleichen Rasen wie im Maracanã“, sagt Ernst, der neben dem sattgrünen Fußballplatz wie ein glückliches Kind neben dem Weihnachtsbaum wirkt.

Ob es die Deutschen wirklich bis ins Endspiel schaffen, auf den echten Maracanã-Rasen, weiß er nicht. Das weiß auch Tobias Junge nicht. „Wir wollten etwas Nachhaltiges schaffen“, sagt er. Schon häufiger hat er sich auch mit Kritikerin Penteado getroffen. Er berichtete ihr von den 80 Auszubildenden, die das Campo Bahia angelernt hat. Von den Abwasserrohren, die nach den heftigen Überschwemmungen vor ein paar Wochen für das ganze Dorf verlegt wurden. Und vom alten Fußballplatz, der bis kommende Woche für die vier Dorfmannschaften erneuert wird und auf dem Gerüchten zufolge das DFB-Team gegen eine lokale Auswahl antreten soll.

Wirklich überzeugt hat Junge Lea Penteado allerdings nicht. „Santo André war ein kleines Paradies“, sagt sie, „und das soll es auch bleiben.“

Celia wird kräftig die Daumen drücken. Für das Paradies. Und für Alemanha. Erst gestern seien drei Deutsche, die ein brasilianisches Trikot kaufen wollten, bei ihr im Laden gewesen, erzählt sie. Und als sie die gelb-grünen Shirts mit einem „Bitteschön“ angeboten habe, seien die Kunden richtig begeistert gewesen. „Alle haben dann ein Trikot gekauft“, sagt Celia.

Nun soll auch ihre älteste Tochter Deutsch lernen.

Kai-Pirinha Täglicher WM-Blog aus Brasilien von Kai Schiller Abendblatt.de/wmblog