Skepsis vor dem Klassiker: Englands Nationalteam muss erst noch den Umbruch bewältigen, den die deutsche Mannschaft mit Bravour gemeistert hat.

London. Für einen kurzen Moment konnte man am Zeitungskiosk glauben, das Länderspiel gegen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft (21 Uhr MEZ, ARD) genieße in England nur eine untergeordnete Bedeutung. So bewarb die „Daily Mail“ auf ihrer Titelseite großflächig eine kostenlose Weihnachts-CD von Dean Martin. Vom Klassiker keine Spur – was beim Betrachten der Konkurrenzblätter aber eher auf angstvolles Wegducken hindeutete.

Wie Halbgötter kämen die Deutschen hier an, die ein Spiel spielen, mit dem wir nicht vertraut sind, schrieb der „Daily Telegraph“. „Unsere Zeitungen sind voller Kummer, voller Angst vor dem Schmerz und der Blamage, die sie uns zufügen könnten.“ In der Tat trug die Berichterstattung, auch in den seriösen Gazetten, Züge des grassierenden Deutschland-Hypes aus dem Mai, als Bayern und Dortmund das Wembleystadion in Beschlag nahmen. „Wir befinden uns vielleicht in einer ähnlichen Übergangsphase wie Deutschland vor der WM 2006“, bestätigte Englands Nationaltrainer Roy Hodgson diese Einschätzungen: hier der Lehrling, dort der WM-Favorit und Lehrmeister.

Neidisch blickt man auf der Insel auf das kooperative Zusammenwirken von DFB und Bundesliga. „Der Verband hat dort die Kontrolle“, glaubt Hodgson. In England geben die reichen Premier-League-Vereine den Ton an, der globalisierte Unterhaltungsbetrieb nimmt keine Rücksicht auf patriotische Befindlichkeiten. Akut zeigt sich diese Problematik anhand des Schicksals von Joe Hart. Der 26-Jährige von Manchester City galt lange als Lösung des englischen Torhüterproblems, wurde jedoch nach einigen Patzern im Verein von seinem chilenischen Trainer Manuel Pellegrini auf die Bank gesetzt; der Rumäne Pastel Pantilimon steht nun bei dem Scheich-Club im Kasten.

Hodgson stärkt Hart den Rücken, aber wenn Pellegrini ihn nicht bald wieder zum Stammspieler macht, kann Hogdson Hart schwerlich bei der Weltmeisterschaft einsetzen. Die möglichen Alternativen lassen sich in der von ausländischen Schlussmännern beherrschten Liga an zwei Fingern abzählen. Fast dekadent wirkt da die Auswahl im Tor der Deutschen, wo Roman Weidenfeller als 33-Jähriger zu seinem Debüt kommt. Bei den Three Lions hätte er wohl längst die Marke von 100 Länderspielen überschritten.

Keine Frage, der Wille zur Erneuerung ist da. 19 Debütanten hat Hodgson seit seinem Amtsantritt im Mai 2012 eingesetzt. Doch Verletzungen, Formkrisen und vor allem die relativ geringe Auswahl an einheimischen Stammspielern in der Premier League – an einem durchschnittlichen Wochenende stehen auf der Insel nur um die 50 Engländer auf dem Platz, also gerade mal zwei für jede Position im Nationalmannschaftskader – haben den besonnenen, stocknüchternen Coach gar nicht erst in Versuchung gebracht, größere Visionen zu entwickeln. Hodgson managt sein Team, im buchstäblichen Sinne: Je nach Gegner und verfügbarem Personal wählt er Taktik und Aufstellung, und vor lauter Pragmatik kommt keine echte Linie ins Spiel.

Vor allem in der Defensive gibt es Reformbedarf. Die Innenverteidigung mit Gary Cahill und Phil Jagielka entsprach zuletzt nicht internationalen Ansprüchen, heute darf wohl ManU-Profi Chris Smalling (23 Jahre, acht Spiele) für Cahill ran, links wurde Ashley Cole (Chelsea, 32, 105) reaktiviert. Hoffnungsvoller sieht es in der Offensive aus, wo Flügelspieler Andros Townsend (Tottenham, 22, 3) wie auch Adam Lallana (Southampton, 25, 1) eine Bewährungschance erhalten.

Höflich und als geübter Diplomat wollte Löw nicht als Chorsänger der Klagelieder mitwirken. England gehöre noch immer zu den großen Fußballnationen, teilte der Bundestrainer den heimischen Medien mit. „Gerrard, Rooney und Lampard haben große Klasse und viel Erfahrung.“ Wucht, Dynamik und Zweikampfstärke zeichne das Team aus. Gerade diese, bereits etwas abgenutzten Namen stehen nicht für die Sehnsucht nach dem modernen, schnellen Umschaltspiel, wie es die DFB-Elf zuletzt häufig zelebrierte.

Dass Löw die Partie gegen Italien als bedeutsamer einstufte und den Test gegen England zum Experimentieren nutzen will, versetzte der englischen Seele einen weiteren Schlag. Dennoch: Ein Sieg im 150. Jubiläumsjahr des englischen Verbandes würde, besonders nach dem bitteren 0:2 gegen Chile am vergangenen Freitag, eine uralte Sorge etwas lindern. The Football Association, wie sich der Verband stolz nennt – der bestimmte Artikel ist hier sehr wichtig – wird es nicht anders ergehen als den Erfindern der anderen großen britischen Sportarten: Sie schenkten der Welt einen Ball und bekamen ihn nie mehr zurück.