Serie: Augenzeugen der Bundesliga: Schiedsrichter Ahlenfelder pfeift am 8. November 1975 betrunken das Spiel zwischen Bremen und Hannover.

Bremen . Na klar, die Gans war fett. Und der angemachte Rotkohl erst. Kräftig nachspülen muss man da doch. Bierchen, Malteser - schon ist der vorgezogene Weihnachtsschmaus im November gut verdaut. Dass dann aber nicht nur der Linienrichter mit einer Fahne aufs Spielfeld läuft, ist schon problematischer. Dumm auch, wenn der kleine Mittagsumtrunk dazu führt, die Zeit nicht zu verpennen, sondern verfrüht zum Aufbruch zu mahnen.

Wolf-Dieter Ahlenfelder, 68, hat die Geschichte oft erzählt und als Grund dafür angeführt, dass er leicht alkoholisiert am 8. November 1975 im Spiel zwischen Werder Bremen und Hannover 96 schon nach 32 Minuten zur Halbzeit pfiff. Allein: Die Geschichte ist schön, aber sie ist frei erfunden. Ahlenfelders Märchenstunde eben. Die fette Gans hat es nie gegeben, auch den angemachten Rotkohl nicht, das Bierchen und den Malteser, ja klar, die schon.

Am Tag, der als einer der kuriosesten in die Bundesliga-Geschichte eingehen wird, ist Ahlenfelder eigentlich gelassen wie immer. Für ihn ist es zwar erst das dritte Spiel in der höchsten Klasse als Schiedsrichter, aber einen bodenständigen Mann aus dem Ruhrpott bringt so leicht nichts aus der Fassung. Schon gar nicht ein Gedeck, das sie in Bremen später nach dem Unparteiischen benennen werden. Noch heute bekommt man in einigen Kneipen der Hansestadt ein Bier und einen Korn, wenn man beim Wirt einen Ahlenfelder bestellt.

Ahlenfelder, damals 31 Jahre alt, ist quasi ein Frischling, der für einen Spesensatz von 24 Mark pfeift; Horst-Dieter Höttges dagegen ein gestandener Profi, das Spiel am 8. November ist schon das 338. seiner Karriere in der Bundesliga. Er hat im Fußball so ziemlich alles erlebt, denkt er. Bis zu diesem Nachmittag. Werders Schiedsrichterbetreuer Richard Ackerschott hat mit Ahlenfelder ein Mittagessen anberaumt, es gibt keine Gans, wohl aber das inoffizielle Nationalgericht der Norddeutschen: Grünkohl und Pinkel. Hinterher Schnaps und Bier, das gehört zur passenden Abrundung dazu. "Wir sind Männer und trinken keine Fanta", wird Ahlenfelder später erzählen.

Doch ganz so harmlos ist die Sache nicht. "An diesem Tag hatte auch unser Masseur Geburtstag", erzählt Höttges. "Eine Stunde vor dem Anpfiff kam Ahlenfelder zu uns in die Kabine, um zu gratulieren. Er hatte nur eine kurze Hose an und ein kurzärmliges Hemd. Und das im November." Da habe er zum Schiri gesagt: "Mensch, Wolf-Dieter, du riechst nach Alkohol, du bist ja total blau." Doch Ahlenfelder verneint und gibt sich mannhaft. Doch Höttges reagiert sofort: "Den habe ich erst mal bis auf die Unterhose ausgezogen, unter die Dusche gestellt und den ganzen Oberkörper kräftig mit 'Wick' eingerieben."

Eigentlich ist "Wick" ein Mittel zur Behandlung von Erkältungen. Doch es hat noch einen netten Nebeneffekt: In großen Dosen aufgetragen wirkt es äußerst belebend. Und noch etwas ist wichtig: Der Menthol- und Eukalyptusgeruch übertüncht komplett die heftige Malteser-Fahne.

Zumindest kurzfristig zeitigt Höttges' Aktion Erfolg. Ahlenfelder kann um 15.30 Uhr mit der Leitung des Spiels beginnen, erst als er nach einer guten halben Stunde zur Halbzeit pfeift, droht der Schwindel aufzufliegen. Höttges läuft zu ihm und sagt: "Wolf-Dieter, bist du sicher, dass schon Halbzeit ist?"

Ahlenfelder: "Warum denn nicht?" Höttges: "Mein Trikot ist in der Halbzeit immer klitschnass, aber jetzt ist es fast noch staubtrocken."

Tatsächlich gesteht Ahlenfelder seinen Fehler ein, er lässt bis zur Halbzeit weiterspielen, als sei nichts gewesen. Auch die zweite Hälfte geht ohne weitere Probleme über die Bühne, das Spiel zwischen Werder und Hannover endet 0:0. Keine Tore. Unspektakulär. Doch Ahlenfelder verfolgt die Partie ein Leben lang.

Höttges, ausgestattet mit dem Blick fürs Ganze, weiß, dass er auch noch nach dem Schlusspfiff Fürsorge zeigen muss. "Inzwischen waren da ziemlich viele Fotografen und Kameraleute. Da haben wir den Wolf-Dieter einfach durch den Hinterausgang unserer Kabine geführt, damit niemand was merkt." Schiedsrichterbetreuer Ackerschott bringt den Trunkenbold schließlich sicher ins Hotel. Da denkt sich Ahlenfelder wohl die Geschichte mit der Gans und dem Rotkohl aus.

25 Jahre lang hält Ahlenfelder an seiner Version fest, erst dann gesteht er, dass es die Gans tatsächlich nie gegeben hat. Völlig betrunken sei er aber nicht gewesen. "Ich war nicht knülle. Ich hatte zwar etwas getrunken, aber Laufbereitschaft und Urteilsvermögen waren voll da." Und die Sache mit dem verfrühten Pfiff? "Ich hatte Probleme mit der Uhr. Aber mein Linienrichter hat mich schnell aufmerksam gemacht."

Nach dem Spiel 1975 erhält Ahlenfelder Bestnoten und darf noch 103 weitere Bundesligaspiele bis zu seinem Laufbahnende 1990 pfeifen. Höttges, heute Betreuer der U15 von Werder Bremen, bedauert, dass derartige Episoden inzwischen undenkbar sind. "Das kannste heute nicht mehr machen", sagt er. "Solche Typen fehlen komplett, wenn Sie bei unserer Profimannschaft nach Ahlenfelder fragen würden, könnte keiner was sagen, den kennt doch dort niemand."