Serie Augenzeugen der Bundesliga: Bayern Münchens Medienchef Markus Hörwick erinnert sich an Giovanni Trapattonis legendäre Wutrede.

Das Bauchgefühl warnt ihn. Es kommt gleich nach dem Aufstehen. Markus Hörwick spürt, dass an diesem Tag etwas Besonderes passieren wird. Seit 29 Jahren ist er Pressesprecher des FC Bayern München. An diesem Dienstag, dem 10. März 1998, denkt er auf der Autofahrt zum Klubgelände darüber nach, wie er dieses Gefühl deuten soll. Er glaubt, dass es etwas mit dem Trainer zu tun hat, mit Giovanni Trapattoni. Dass die nächsten Stunden ein neues Wort hervorbringen werden, "Wutrede", ahnt er nicht. Auch nicht, dass sie Thomas Strunz berühmt machen wird.

Hörwick hat nur den Terminplan im Kopf: 15 Uhr, Pressekonferenz Trapattoni. Am Sonntag hatten die Bayern 0:1 gegen Schalke 04 verloren, und Strunz und sein Kollege Mario Basler hatten sich danach über den Trainer beschwert, weil er sie nicht aufgestellt hatte. Von Trapattoni hatte Hörwick seit dem Spieltag nichts mehr gehört. "Nach der Niederlage auf Schalke waren wir ins Hotel in Essen gefahren. Nach dem Mittag hielt Trapattoni eine wütende Rede im Mannschaftskreis. Er war stinksauer", so Hörwick. "Der einzige Unterschied zu seiner späteren Wutrede: Die Flasche war nicht leer, sondern voll. Als er wild gestikulierte, flog eine volle Rotweinflasche um. Der Wein floss über den Tisch, es traf auch Uli Hoeneß." Trapattoni war so sauer, dass er deutlich gemacht hatte, er wolle bis Dienstagnachmittag niemanden aus dem Verein sehen. Und hatte sich in sein Haus bei Mailand zurückgezogen.

Als Hörwick um zehn Uhr in seinem Büro ankommt, greift er zum Telefon. Nach wenigen Sekunden geht Trapattoni ran. Hörwick ist erleichtert. Er sucht nach einem Vorwand für seinen Kontrollanruf, fragt, wie es ihm geht. Die Leitung rauscht, Trapattoni sitzt in seinem Dienstwagen und fährt nach München. Die Stimme ist fest.

Hörwick ist jetzt ruhiger. Plötzlich schießt ihm eine Frage durch den Kopf: Wieso hatte Trapattoni nicht nach der Stimmung in München gefragt? Hörwick hat den Verdacht, dass ihm der Trainer die gute Laune nur vorspielt. Gegen 14.30 Uhr macht sich Hörwick auf den Weg ins Trainerzimmer. Als Hörwick die Tür öffnet und ins Zimmer tritt, klatscht der Italiener in die Hände: "Lass uns nicht warten." Der hat es aber eilig, denkt sich Hörwick. Dann sieht er, dass Trapattoni Zettel aus seiner Tasche kramt. Und erkennt, dass sein Gefühl richtig war. "Ich dachte nur: 'Oh, oh!' Ich wusste, was passiert."

Trapattoni hat sich vor seinen öffentlichen Auftritten immer die wichtigsten Sätze von seinem Dolmetscher aufschreiben lassen. Doch an diesem Tag hält er acht Zettel in der Hand. Ein schlechtes Zeichen. "Die Zettel waren kariert, mit Bleistift beschrieben, das vergesse ich nie", so Hörwick.

Hörwick will es wie eine Fußballmannschaft machen, die in der 90. Minute 1:0 führt: Er will auf Zeit spielen. Denkt darüber nach, sich und Trapattoni im Trainerraum einzuschließen. Doch im Schloss steckt kein Schlüssel. Also Augen zu und durch.

Schon sitzt Trapattoni auch schon vor zehn Mikrofonen der TV- und Radiosender. Er legt die Zettel auf das Pult, stützt sich breitarmig drauf, schaut grimmig und fragt: "Sind Sie bereit?" Die Reporter nicken, und die legendäre Pressekonferenz beginnt. Der deutsche Fußball bekommt seine erste Wutrede.

3:30 Minuten dauert sie, Hörwick lehnt die ganze Zeit rechts hinter Trapattoni an der Wand und verschränkt die Arme. "Was kann ich tun?", fragt er sich. Er überlegt kurz einzugreifen: "Die Sache war aber nicht mehr zu stoppen. Fernsehkameras liefen, da konnte ich den Trainer nicht wegziehen. Ich hätte ihn bloßgestellt." Es endet mit den berühmten Worten: "Ich habe fertig." Doch das stimmt nicht. Er geht zurück zur Tür, durch die er kam, sagt: "Ich kann Worte noch einmal wiederholen." Dann geht er. Einige Reporter klatschen. Hörwick war selbst Journalist, schrieb für "Bild". Er ahnt, für welche Schlagzeilen sein Trainer gerade gesorgt hat. Er folgt Trapattoni.

Doch im Flur geht der Trainer nur fünf Meter, fasst sich an den Kopf und sagt: "Habe ich noch etwas vergessen." Er will zurück, doch Hörwick stellt sich ihm in den Weg und sagt: "Stopp, Giovanni!" Das würde sich nicht lohnen, sagt er, die sind doch längst alle weg. "Ich habe ihn fast mit Gewalt ins Trainerzimmer gebracht und gesagt, dass ich mal nachschaue, ob noch Reporter da sind", sagt Hörwick. Er guckt tatsächlich nach. Alle Reporter sind noch da. Stehen um drei Stehtische im Presseraum in mehreren Reihen um ihre Diktiergeräte und hören sich die Rede an, immer wieder. Kaum jemand glaubt, was sich gerade zugetragen hat. Einige brüllen ins Handy ihren Kollegen in der Redaktion zu: "Wahnsinn! Irre! Große Geschichte!" Hörwick geht zurück zu Trapattoni. Und lügt. "Sorry, Giovanni, alle schon weg."