Wie der Fußballverband mit “Coolnesstagen“ und dem Projekt “Spielabbruch“ gegen die Gewalt auf Sportplätzen vorgeht

Hamburg. Es begann mit dem Streit um einen Einwurf. Dann das Reißen am Trikot, ein Schlag mit der Faust ins Gesicht, schließlich die Rote Karte. Nach dem Platzverweis geriet Ibrahim B. mit dem gegnerischen Torwart aneinander. Plötzlich zog der 18-jährige Schüler aus Guinea ein sogenanntes Kellnermesser und rammte dem 17-jährigen Keeper die vier Zentimeter lange Klinge fünfmal in den Rücken. Das Opfer überlebte die lebensgefährlichen Lungenverletzungen. Ein zweiter Gegenspieler wurde mit zwei Stichen verletzt. Seit Dienstag muss sich Ibrahim B. wegen versuchtem Totschlag vor dem Landgericht Hamburg verantworten.

Die Messerattacke auf dem Fußballplatz in Barmbek vom vergangenen Juni ereignete sich beim Spiel zwischen zwei Teams der staatlichen Fremdsprachenschule. Der Gewaltausbruch ist deshalb kein Fall für den Hamburger Fußballverband (HFV). Ein Fall für Wilfried Wilkens, 52, und Daniel Gehrke, 36, wäre er allemal.

Manchmal greifen Wilkens und Gehrke am Sonntagabend spontan zum Handy. Soeben haben sie erfahren, dass irgendwo auf einem Sportplatz in Hamburg ein Fußballspiel wegen Randale abgebrochen worden ist. Die ausgebildeten Anti-Gewalt-Trainer rufen die Betreuer der Teams an: Ob sie am Dienstag zum Training vorbeikommen können, um mit den Kickern über den Vorfall zu sprechen? In sechs von acht Fällen lautete die Antwort bisher: "Okay, kommt vorbei!" Sie gehen dann noch zum nächsten Spiel am Sonntag, nochmals zum Training und kontaktieren zudem den Schiedsrichter. "Wir legen den Finger in die Wunde."

Projekt "Spielabbruch" nennt sich das einzigartige Angebot, das so ähnlich nur noch in Berlin praktiziert wird. Ein überaus konkreter Ansatz, um der Gewalt auf den Fußballplätzen entgegenzuwirken, die mit dem Tod des holländischen Linienrichters vor zehn Tagen eine neue Stufe der Eskalation erreicht hat. Hat auch Hamburgs Amateurfußball ein Gewaltproblem?

"Nein", sagt HFV-Sprecher Carsten Byernetzki. Die reinen Zahlen geben ihm recht. Mehr als 99 Prozent aller Spiele in Hamburg am Wochenende gehen problemlos über die Bühne. Bei rund 60.000 Spielen im Jahr gibt es etwa 30 gewaltbedingte Spielabbrüche. Die Zahl ist seit Jahren konstant. Die schweren Vorfälle sind sogar rückläufig. Während der Jugend-Rechtsausschuss im Jahr 2007 noch 149 Fälle verhandelte, waren es 2011 nur noch 89. Beim Sportgericht sank die Zahl der Verhandlungen von 545 (2007) auf 473 (2011).

"Ja", sagt dagegen Wilfried Wilkens, "sonst müssten wir unsere Arbeit ja nicht machen." Sie begann vor acht Jahren. Wilkens trainierte die Mannschaft seines Sohnes, machte beim HFV den C-Schein. Mit seinen Ideen zur Prävention rannte der Deeskalationstrainer dort offene Türen ein. Er gründete das Referat Gewalt, das seitdem fester Bestandteil der Trainerausbildung ist. "Damit haben wir pro Jahr rund 300 Multiplikatoren, die für den Umgang mit dem Thema sensibilisiert werden", sagt Wilkens, der auch mit Jugendlichen im Gefängnis arbeitet.

Es gibt die sogenannten Coolnesstage, an denen sich junge Fußballer mit Begriffen wie Fairplay, Respekt, Ehre oder Provokation auseinandersetzen. Mit einer erfolgreichen Teilnahme an einem Coolnesstag können gesperrte Kicker zudem ihre manchmal monatelange Sperre reduzieren. Wilkens ist sicher, dass die von der Homann-Stiftung geförderte Arbeit Früchte trägt. "Beeindruckend ist, dass anfangs alle Teilnehmer meinen, Fairplay könne man nicht trainieren. Und hinterher alle sagen, es lohnt sich, dem Thema mehr Raum zu geben." Weil die Spieler nämlich auch angaben, 25 bis 60 Prozent ihrer Energie während des Spiels für Meckern, Provokationen oder Revanchegedanken zu verwenden.

Wo aber fängt Gewalt an? Ist es schon verbale Gewalt, wenn ein Trainer sein Team vorm Spiel auffordert: "Heute macht ihr sie platt!" Für Daniel Gehrke, Trainer des 1. FC Quickborn, ist das keine Frage. "Natürlich ist das schon eine Stufe der Gewalt." Gehrke geht es um das Durchbrechen der Gewaltspirale. Er fragt die Fußballer: Wie war der Tag vorm Spiel? Gab es Stress mit dem Chef, der Freundin, in der Schule? Ein Minus auf dem Konto? "Es ist wichtig, dass die Spieler verstehen, wie es zur Eskalation gekommen ist." Dass sie verstehen, "wie sie von null auf 180 gekommen sind". Und beim nächsten Mal rechtzeitig umdrehen.

Das üben sie in Hamburg. Damit nicht irgendwann ein Streit um einen Einwurf mit einer Messerattacke endet.