Schiedsrichter Babak Rafati hat am Wochenende einen Suizidversuch unternommen. Warum sah er keinen Ausweg mehr? Eine Spurensuche.

Das Schlimmste ist die Hilflosigkeit. Ein Vater sitzt am Sonntag einsam in seiner Wohnung, in einem fünfstöckigen Mietshaus in Hannover, und grübelt. Warum, geht es ihm immer wieder durch den Kopf, hat sein Sohn sich bloß das Leben nehmen wollen? Djalal Rafati kann wegen einer Augenoperation nicht zu ihm ins Krankenhaus fahren. Und sein Sohn hat es ihm auch nicht erklären können, als sie tags zuvor kurz telefonierten. "Papa, verzeih mir", hat er nur gesagt, und der Vater hat geantwortet: "Natürlich verzeihe ich dir. Du musst dich jetzt erholen." Sie beendeten das Gespräch, ohne dass die entscheidende Frage fiel: Warum?

Warum hat sich Schiedsrichter Babak Rafati, 41, am Sonnabend vor dem Bundesliga-Spiel zwischen dem 1. FC Köln und dem 1. FSV Mainz in seinem Hotelzimmer in die Badewanne gelegt und sich die Pulsadern aufgeschnitten? Djalal Rafati weiß es nicht. Die Familie stammt aus dem Iran. Babak, gelernter Bankkaufmann, hatte eine Scheidung hinter sich. Aber seither sei er schon einige Jahre mit seiner Freundin zusammen und glücklich gewesen, sagt der Vater. Auch über Depressionen oder Burn-out habe sein Sohn nie geklagt.

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Theo Zwanziger weiß es auch nicht. Der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) hatte seinen Besuch beim Frauen-Länderspiel Deutschland gegen Kasachstan in Wiesbaden abgebrochen, nachdem ihn um 13.45 Uhr Schiedsrichter-Obmann Herbert Fandel auf dem Handy anrief: "Es ist etwas ganz Schlimmes passiert." Eine Stunde später wurde das Spiel in der Kölner Arena abgesagt.

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Eigentlich hatten sich Rafati und seine drei Assistenten um halb zwei im Hyatt-Hotel in Köln-Deutzzur Vorbesprechung verabredet. Am Abend vorher hatten sie noch in trauter Runde zusammengesessen, alles war wie immer, berichten sie. Am Morgen fehlte Rafati beim Frühstück, auch noch nichts Ungewöhnliches. Nur als Rafati dann auch nicht zur Besprechung kam, wurden Patrick Ittrich, Holger Henschel und Frank Willenborg nervös. Anrufe und Klopfen an der Zimmertür blieben unbeantwortet, also ließen sie Rafatis Zimmer von einer Servicekraft öffnen. Was sie dort sahen, war so schrecklich, dass sie am Sonnabend von der Notfallseelsorge betreut werden mussten.

Aber sie haben ihrem Chef wohl das Leben gerettet. "Dass Babak Rafati außer Lebensgefahr ist, ist das Verdienst der drei Assistenten. Sie haben das Notwendige in dieser Situation gemacht und die richtigen Maßnahmen ergriffen", sagte Theo Zwanziger. Der Schwerverletzte wurde in ein Kölner Krankenhaus eingeliefert. Abends war er dort wieder ansprechbar, er konnte auch mit seinem Vater telefonieren.

"Ich hätte nie gedacht, dass er sich so etwas antut. Das habe ich nicht für möglich gehalten", sagte Djalal Rafati gestern der "Welt". Er fügt hinzu, dass er auch schon am Sonnabendvormittag mit seinem Sohn telefoniert habe. Da habe ihm Babak aber nur gesagt, "dass es ihm nicht so gut geht".

Die Notizzettel, die in Rafatis Hotelzimmer gefunden wurden und möglicherweise Aufschluss über seine Motive geben, werden jetzt von der Kriminalpolizei ausgewertet, zum Teil sollen sie unleserlich sein. Vielleicht sorgt Rafati auch selbst bald für Aufklärung. Sein Zustand hat sich im Laufe des gestrigen Tages weiter stabilisiert. Aber selbst wenn die physischen Wunden verheilen, bleibt das Rätsel um die Ursache.

Im deutschen Fußball ist nach dem ersten Schock eine Diskussion darüber ausgebrochen, wie mit Rafatis Suizid-versuch umzugehen ist. "Ich habe nicht geglaubt, dass so etwas möglich ist in einem so nahen Umfeld zu einem Bundesliga-Spiel. Wir müssen uns noch mehr Fachleute mit ins Boot holen. Wir müssen offen sein und Rat annehmen", sagte Liga-Präsident Reinhard Rauball. Theo Zwanziger versucht es sich so zu erklären, "dass der Druck auf unsere Schiedsrichter aus den unterschiedlichsten Gründen ungeheuer hoch ist, wie überhaupt in diesem Leistungssport. Es gibt im Leben viele andere liebens- und lebenswerte Facetten. Man darf sich nicht in eine Sache so stark hineinbewegen, dass man zum Schluss in eine ausweglose Situation gerät."

Nicht nur Zwanziger musste am Sonnabend an den 10. November 2009 denken; jenen tragischen Tag, als Nationaltorwart Robert Enke sich das Leben nahm. Es ist viel geredet worden seither - von gesellschaftlichem Umdenken und von Toleranz. Viele Vereine und Verbände haben Psychologen angestellt. Und jüngst keimte tatsächlich Hoffnung auf, als Schalkes Trainer Ralf Rangnick offen zu seinem Burn-out stand und seinen Posten aufgab. Hannovers Reservetorwart Markus Miller begab sich im September wegen "mentaler Erschöpfung" in stationäre Behandlung, genau wie der Cottbuser Martin Fenin einen Monat später.

Aber während sich bei Spielern und Trainern offenbar eine neue Denkweise durchsetzt, sind die Schiedsrichter immer noch eine im Profigeschäft recht isolierte Gruppe. Jahrzehntelang beherrschten sie das Spielgeschehen, kritisch beäugt, aber immer noch mit genug Autorität ausgestattet. Mittlerweile stecken aber auch sie in einer tiefen Identitätskrise. Nicht nur, dass die immer ausgefeiltere Zeitlupentechnik inzwischen jeden ihrer Fehler sichtbar macht und sie deshalb nach Niederlagen zunehmend als Sündenböcke herhalten müssen. An ihrem Nimbus der Unantastbarkeit haben sie auch selbst gesägt.

Es war Schiedsrichter Robert Hoyzer, der 2005 einen Wettskandal auslöste und damit den deutschen Fußball in den Grundfesten erschütterte. Fünf Jahre später beschwor Michael Kempter ein kaum geringeres Beben, als er seinen Ausbilder Manfred Amerell der mehrfachen sexuellen Nötigung beschuldigte. Weitere Referees meldeten sich danach mit ähnlichen Vorwürfen. Amerell, vom DFB ausgeschlossen, trat einen Rachefeldzug an und schwärzte unter anderem diverse Schiedsrichter bei der Steuerfahndung an. Die noch laufenden Ermittlungen haben bereits ergeben, dass offenbar einige von ihnen über Auslandskonten ihre Honorare am Fiskus vorbeilotsten.

Allerdings soll Babak Rafati nach "Welt"-Informationen nicht zu den sieben Schiedsrichtern gehören, die sich jüngst beim DFB meldeten und steuerliche Verfehlungen zugaben. Fühlte er sich kaltgestellt? Rafati, der 2005 sein erstes von 84 Bundesligaspielen leitete, wurde dreimal in einer Umfrage des Fachmagazins "Kicker" unter den Bundesligaprofis zum schlechtesten Schiedsrichter gewählt. Der DFB ließ ihn für das kommende Jahr auch nicht mehr auf die Liste der Fifa-Schiedsrichter setzen, die internationale Spiele leiten dürfen. "Aus Altersgründen", hieß es. Wird er überhaupt noch einmal ein Spiel leiten? Es bleibt das große "Warum?".