Sportgespräch mit DFB-Sportdirektor Matthias Sammer über die Qualität der Nationalelf, die Auswahl der Nachwuchsspieler und den HSV.

Grünwald. Auch als Gast in der Bar Italia in Grünwald bei München ist Matthias Sammer, 44, schnell in seinem Element. Gewohnt temperamentvoll skizziert Sammer mit seinem Besteck taktische Spielformen, berichtet dann voller Leidenschaft über seinen Job als Sportdirektor des DFB. Zu Beginn des einstündigen Gesprächs mit dem Abendblatt geht es allerdings um sein Beinah-Engagement als Sportdirektor des HSV.

Hamburger Abendblatt: Herr Sammer, statt im beschaulichen Grünwald hätten wir uns auch an der Alster treffen können. Sie hätten im Januar nur den Vertrag als Sportchef beim HSV unterschreiben müssen ...

Matthias Sammer: ... ich möchte nicht mehr über Details dieser Verhandlungen reden. Für beide Seiten ist es am Ende gut gelaufen. Ich habe meinen Vertrag beim DFB verlängert und damit weiter einen Job, der mir sehr viel Spaß macht. Und der HSV ist mit Thorsten Fink und Frank Arnesen im sportlichen Bereich jetzt exzellent aufgestellt. Ich saß neben Thorsten bei der letzten Trainertagung. Das ist ein Typ, der weiß, was er will. Der HSV hat jetzt alle Voraussetzungen, einen Platz im gesicherten Mittelfeld zu erreichen.

Sie haben also kein schlechtes Gewissen?

Sammer: Das hätte ich nur, wenn ich dem HSV damals mein Wort gegeben hätte. Aber das habe ich nicht. Wir waren mitten in Verhandlungen. Da muss man immer damit rechnen, dass es am Ende nicht klappt.

Reden wir über den Lokalrivalen FC St. Pauli. Dessen Kurs, auf junge deutsche Spieler zu setzen, müsste Ihnen gefallen.

Sammer: Ja, der Weg des FC St. Pauli ist sehr gut für den deutschen Fußball. Hier erhalten Talente von großen Klubs wie Leverkusen, Schalke oder Dortmund eine echte Chance, regelmäßig zu spielen.

Aber dafür müssen sie akzeptieren, dass sie nur noch Zweitliga-Kicker sind.

Sammer: Ich sagen Ihnen: Alles Training der Welt kann regelmäßige Spielpraxis nicht ersetzen. Junge Spieler im Übergangsbereich zwischen Jugend- und Profifußball brauchen die Herausforderung, vor einem großen Publikum unter Wettkampfbedingungen zu bestehen. Da hilft es meistens mehr, diesen Weg zu gehen, statt in der Bundesliga nur auf der Bank zu sitzen.

Den Fans gefällt vor allem der technisch feine Fußball. Die Zeiten, in denen eine deutsche Mannschaft wie bei der WM 2002 ins Finale rumpelt, sind vorbei.

Sammer: Ganz offen, solche Aussagen empfinde ich als respektlos. Diese Mannschaft hat vor knapp zehn Jahren Unfassbares erreicht. Dafür verdient sie allen Respekt. Das heutige Team hat spielerisch und taktisch viel bessere Anlagen. Damit steigt auch seine Verpflichtung.

Braucht eine große Mannschaft einen Titelgewinn?

Sammer: Fragen Sie mal die Spieler um Luís Figo aus der hochgelobten "goldenen Generation" der Portugiesen, ob sie sich ohne Titelgewinn wirklich komplett fühlen.

Wohl eher nicht.

Sammer: Eben. Eine wirklich große Mannschaft braucht den Pokal, den großen Titel. Aber unsere Nationalmannschaft hat das Zeug dazu.

Ist das Team schon stärker als der Welt- und Europameister Spanien?

Sammer: Wir sollten uns nicht mehr an Spanien orientieren. Wir wissen, dass die ganz gut sind. Aber auch wir sind enorm stark. Unsere Stärken stärken, unsere Schwächen schwächen - darauf sollten wir uns besinnen. Im Nachwuchsbereich musste ich zu Beginn meiner Amtszeit oft über Spanien sprechen. Aber das ist vorbei. Wir reden hier gar nicht mehr über Spanien.

Der Aufwand, den Sie betreiben, ist enorm. Selbst die U15 reist schon mit Torwarttrainer, Arzt, Physiotherapeuten und Fitnesstrainern an.

Sammer: Und bei Bedarf bieten wir auch noch psychologische Betreuung. Dieser Kurs ist richtig. Zum einen sind wir gegenüber den Klubs, die uns ihre Talente anvertrauen, verpflichtet, ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen zu bieten. Und zum anderen ist dies auch ein Signal an die jungen Spieler, dass ihr Körper das wichtigste Kapital ist. Ab sofort hängen bei uns auch Plakate in der Kabine, im Fitnessraum, im Massagezimmer mit dem Slogan "Ich spiele für Deutschland. Freudvoll. Zielstrebig. Emotional".

Stimmt es, dass Sie die jungen Spieler schon früh kategorisieren?

Sammer: Richtig. Wir unterteilen in Führungsspieler, Individualisten und Teamplayer.

Wir dachten immer, der Star ist die Mannschaft.

Sammer: Dieser Slogan war das völlig falsche Signal. Gleichmacherei führt nicht zum Erfolg. Ohne eine klare Struktur ist auch in der spielerisch besten Mannschaft alles nichts. Sie brauchen die Führungsspieler, die vorangehen, die vom Trainer in Personalentscheidungen eingebunden werden. Den Teamplayer, der marschiert, aber verbal eher zurückhaltend ist. Und den Individualisten, der Verrücktes wagt, für die genialen Momente. Aus dieser Struktur entsteht dann Teamgeist.

Sie waren immer ein Führungsspieler.

Sammer: Falsch. Zu Beginn meiner Karriere war ich ein klarer Individualist, ein Mittelstürmer ohne Rückwärtsgang, der Tore schießen wollte. Defensivaufgaben waren mir relativ egal. Nach mehreren Positionswechseln hat sich das etwas geändert. Zum Führungsspieler wurde ich aber erst durch Ottmar Hitzfeld in meiner Dortmunder Zeit. Er sagte mir eines Tages: Matthias, ich erwarte jetzt von dir, dass du Verantwortung für die gesamte Mannschaft übernimmst, nicht mehr nur für dein eigenes Spiel. Ich wollte das erst gar nicht. Ich wollte einfach nur erfolgreich sein. Dann habe ich mich auf diese Rolle eingelassen. Ohne den Impuls des Trainers wäre es dazu nie gekommen.

Wie erkennen Sie bei einem 17-Jährigen, ob er zum Führungsspieler, Teamplayer oder Individualisten taugt?

Sammer: Dies übernehmen unsere Trainer. Nach Länderspielreise oder Trainingsmaßnahme schreibt der Trainer hinter die Namen der nominierten Spieler ein "F" für Führungsspieler, ein "T" für Teamplayer oder ein "I" für Individualist. Dies speist sich aus Beobachtungen auf und abseits des Rasens.

Das sind komplizierte Gespräche, die bestimmt auch wehtun können.

Sammer: Wer hat gesagt, dass Weltspitze einfach ist? Sicher, diese Kategorisierung verlangt viel Mut, zumal wir sie auch innerhalb der Mannschaft kommunizieren. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir diese klare Struktur brauchen. Sobald wir schwammig werden, kriegen wir Probleme. Aber gestatten Sie mir noch einen Hinweis in Sachen Führungsspieler.

Bitte.

Sammer: Ich weiß, dass dieser Begriff bei manchen negativ besetzt ist. Deshalb sage ich auch sehr deutlich, dass Führungsspieler nichts mit Rumbrüllen oder Teamkollegen in den Hintern zu treten zu tun haben. Führung bedeutet, mit einer natürlichen Autorität seine Mitspieler mitzunehmen. Und keine dieser Kategorien ist in Stein gemeißelt. Ein Spieler, der als introvertierter Teamplayer zu uns kommt, kann sich bei uns sehr wohl zum Führungsspieler entwickeln.

Oder umgekehrt ...

Sammer: Klar. Und dann hilft nur Klarheit. Man muss ehrlich und authentisch sein. Dann akzeptieren die Spieler das.

Wird Mesut Özil irgendwann zum Führungsspieler aufsteigen?

Sammer: Das glaube ich eher nicht. Mesut wird ein Individualist bleiben. Ein wunderbarer Spieler, der mit seiner Leichtigkeit ein Spiel entscheiden kann. Ein Trainer fördert dies und ein guter Führungsspieler sieht das und unterstützt ihn.

Der Trend zu immer jüngeren Spielern ist auch in der Bundesliga unverkennbar. Werden Spieler Anfang, Mitte 30 irgendwann keine Chance mehr haben?

Sammer: Die Anforderungen in technisch-taktischer und athletischer Hinsicht sind ohne Frage gewachsen. Die Grenze der Belastbarkeit wird früher erreicht. Topspieler werden sich dennoch auch jenseits der 30 weiter halten. Denn in der absoluten Spitze geht es nicht nur darum, wie schnell und wie lange ich rennen kann, sondern wie ich den Druck psychisch verkrafte. Und da ist Erfahrung sehr viel wert.

Ein Mario Götze wirkt schon mit 19 extrem gereift. Dem scheint der Druck nichts auszumachen.

Sammer: Ich bin mir da nicht so sicher. Manchmal sehe ich in seinem Gesicht, dass er doch angespannter ist, als wir alle meinen. Aber er hat ein sehr gutes sportliches und privates Umfeld und ist schlau genug, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Er wird seinen Weg gehen.

Herr Sammer, würde es Sie insgeheim reizen, an der Seite der Götzes und Özils zu spielen und das Unternehmen EM 2012 anzugehen?

Sammer: Mit solchen Fragen beschäftige ich mich nicht. Ich will auch nicht Spielergenerationen vergleichen. Unser Erfolg mit dem EM-Titel 1996 gelang mit einer Mannschaft, die dank ihrer großen Persönlichkeiten unter anderem die vielen Verletzungen weggesteckt hat. Auch die aktuelle Mannschaft ist menschlich großartig. Das sind richtig gute Jungs.