Die Frauen-Nationalmannschaft erhält bei der Fußball-Weltmeisterschaft die lang ersehnte Aufmerksamkeit - mit allen Konsequenzen.

Mönchengladbach. Die Nummer neun bebt. Sichtbar. Die Wangen sind gerötet, die Unterlippe zittert, Schweiß rinnt die Schläfen hinunter. Der Mann trägt das Trikot der deutschen Kapitänin Birgit Prinz. Und er ist sauer. Auf die Bundestrainerin, auf ihre Entscheidung, die Spielführerin auf der Bank zu lassen. Ein "totaler Fehler" sei das, ereifert sich der Fan lautstark.

Seine Sichtweise auf die Auswahl Silvia Neids bleibt ungehört, verhallt im Borussia-Park, irgendwo zwischen den Schlachtrufen der schwarz-rot-goldenen Fußballanhänger. Und doch spüren sie, dass plötzlich alles anders ist in diesen Tagen der Weltmeisterschaft. Die Trainerin, die auch an diesem Sonnabend im Viertelfinale gegen Japan an der Seitenlinie ihrer Mannschaft Anweisungen erteilen wird, die Spielerinnen, die Fans. "Es gibt", stellte Silvia Neid schlicht fest, "momentan eben 80 Millionen Bundestrainerinnen." Tatsächlich interessieren sich die Menschen. Interessieren sich für Spielweisen und Taktiken, für Aufstellungen und Schicksale. Für Frauenfußball.

OK-Präsidentin Steffi Jones hat viel gesagt in den zähen Monaten vor dem Eröffnungsspiel in Berlin. Über Erwartungshaltungen und ein eigenes Märchen, das im Sommer 2011 von den Frauen geschrieben werden sollte. Man hat sie angehört, gestaunt über derart viel Optimismus und manchmal sogar gelächelt über diese Naivität. Aber sie hat letztlich recht behalten.

Mehr als 15 Millionen verfolgten jedes Spiel der deutschen Damen im Fernsehen. In Kneipen versammeln sich Menschen, denen Alexandra Popp und Babett Peter ein Begriff ist, die über Schiedsrichterentscheidungen und Torquoten diskutieren. Autos fahren wieder beflaggt, Panini-Bildchen werden getauscht. Ganz so wie bei den Männern?

Als "Zeichen der Anerkennung" wertet Teammanagerin Doris Fitschen die erhöhte Aufmerksamkeit: "Dafür haben wir lange gekämpft." Theo Zwanziger, unermüdlich um die Emanzipation im liebsten Sport der Deutschen bemüht, jubiliert ob des "enorm gestiegenen Interesses" und glaubt an einen nachhaltigen Effekt der Weltmeisterschaft für die (Frauen-)Bundesliga. Dort, wo 500 statt 50 000 Zuschauer in den Stadien sitzen. Wo der Alltag herrscht. Noch aber ist WM. Und deren Erfolg verblüfft selbst die optimistischen Verantwortlichen. Monatelang haben sie mit teuren Imagekampagnen versucht, ihre "Mädels" ins rechte Licht zu rücken. Da stehen Stars auf dem Spielfeld, lautete die Botschaft. Frauen, die sich schminken und trotzdem ein perfektes Dribbling beherrschen. Die sich vermarkten lassen für Shampoos und Sportartikelhersteller. Verheißungsvoll streute man in Werbung und Medien Vorboten eines neuen Sommermärchens. Jetzt ist es wahr geworden und soll nur Gewinner kennen.

Doch die verkrampften Auftritte der Nationalmannschaft gegen Nigeria und Kanada zeigten nur zu deutlich, wie überrascht und beeindruckt manche Spielerin von der eigenen Popularität gewesen ist. Es tauchten Fotos in der "Bild"-Zeitung von ihnen auf, beim Gang zur U-Bahn, beim Einkaufsbummel durch die Stadt. Liebesbeziehungen wurden öffentlich gemacht. All das kennt man, von den Herren Schweinsteiger, Ballack und Lahm. Nicht aber von einer 23-Jährigen, deren Name bisher nur überzeugten Anhängern des Frauenfußballs ein Begriff war. Celia Okoyino da Mbabi ist zu einem der Stars im Team aufgestiegen. Glücklich ist sie damit nur bedingt. "Wir haben darauf hingearbeitet, dass wir in den Medien präsenter sind", erzählt sie. Diese Bekanntheit haben sie nun, mitsamt allen Konsequenzen. "Wenn wir einen Fuß vor die Tür setzen, weiß am nächsten Tag die ganze Welt, was wir wo und wann geshoppt haben, was das gekostet hat und welche Klamotten wir anhatten. Das ist für uns etwas ganz Neues", sagt sie. Natürlich, betont jede Spielerin auf Nachfrage, sei es eine einmalige Erfahrung, eine Chance für den Frauenfußball. Die Atmosphäre, so beschreibt es Kerstin Garefrekes, sei sehr positiv. "Etwas in dieser Art habe ich noch nie erlebt." Wie hätte sie auch? Spielt sie doch in einer Bundesliga, von der kaum Notiz genommen wurde.

Eine WM kann man nicht proben wie ein Theaterstück. "Wir haben versucht, uns die Stimmung vorzustellen", sagt Trainerin Neid, eine eher nüchterne Analystin. "Aber dass es so ist, wie es ist, darauf kann man sich nicht vorbereiten." Sie würden nun innerhalb der Mannschaft Späßchen machen, morgens, wenn die Zeitungen auf dem Frühstückstisch liegen. "Da weiß ich dann, wo welche Spielerin am Vortag gewesen ist." Das mag lustig sein. Weniger amüsant sind die Schlagzeilen wohl für einzelne Spielerinnen. Für Birgit Prinz etwa, wenn deren "Denkmal bröckelt" und sie "zum Problemfall" wird. Wenn über deren missmutigen Abgang plötzlich ein Millionenpublikum diskutiert. Ihre Zimmergenossin Ariane Hingst machte die Medien für das Tief von Prinz verantwortlich. "Ich finde es zum Kotzen, was mit ihr angestellt wird", schimpfte Hingst. Die Betroffene sprach von einer "Hetzjagd".

Fast schien es zu Beginn der Vorbereitung, dass die Frauen so etwas wie Welpenschutz genießen. Nun ist WM, und es ist vorbei mit der Nettigkeit. Kritik wird geäußert, laut und deutlich. Das Publikum pfeift, wenn es nicht klappt mit dem schönen Spiel, dem Sieg und letztlich mit dem Titel. "Dritte Plätze sind was für Männer" werben ARD und ZDF selbstbewusst. Da ist es schwer, die Leichtigkeit zu behalten. Bei Weltmeisterschaften der Männer verhält es sich ähnlich. Ein Turnier braucht seine Helden und Geschichten, und es braucht seine Schicksale. Diese Mechanismen greifen jetzt bei den Damen.

Der DFB, Sponsoren und Manager, sagt der frühere Volleyball-Bundestrainer und heutige Mentalcoach Olaf Kortmann, würden mit jenen Geistern konfrontiert, die sie herbeigefleht hatten. "Plötzlich konzentrieren sich die Spielerinnen nicht mehr nur auf den Platz, sondern machen sich zu viele Gedanken um das Drumherum." Durch die Marketingaktionen seien sie in Rollen hineingewachsen. "Plötzlich bekommen die Spielerinnen eine neue Identität", sagt Kortmann. "Sie werden zu Werbeträgern, zu Gladiatorinnen, die im Blickpunkt der Öffentlichkeit agieren und Erwartungen erfüllen sollen."

Das kann belasten, muss es aber nicht. "Der Mensch ist keine Maschine. Die einen beflügelt eine gigantische Kulisse, die anderen hemmt sie eher." Bei den Pokalspielen sieht man das manchmal. Wenn ein Viertligist gegen einen etablierten Bundesligisten antreten muss und ihn, getragen von einer bisher unbekannten Stimmung, besiegt.

Sie alle wollen, sagt Silvia Neid, jede Sekunde dieser Weltmeisterschaft genießen. Selbstverständlich mit einem bestmöglichen Ausgang, dem dritten Titel. Davon träumt selbst die Nummer neun wieder. Der Mann hat sich beruhigt, kurz vor Abpfiff des Spiels schwenkt er sein schwarz-rot-goldenes Hawaiikettchen und stimmt ein glückseliges "Oh, wie ist das schön" an. Die Deutschen haben gewonnen, 4:2 gegen Frankreich. Birgit Prinz wurde auf der Bank gelassen. Das ist für den Fan jetzt aber nebensächlich. Es gab einen Sieg. Und nur der zählt - bis zu diesem Sonnabend, bis zum nächsten Spiel.